Sorgfalt bei Sessel 620
Der heute 82-jährige, im Taunus lebende Dieter Rams war ab 1955 vierzig Jahre lang der führende Produktgestalter der Firma Braun. Seine berühmten zehn Thesen zum Design bewahren bis heute ihre Gültigkeit.
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Sorgfalt bei Sessel 620
Der heute 82-jährige, im Taunus lebende Dieter Rams war ab 1955 vierzig Jahre lang der führende Produktgestalter der Firma Braun. Seine berühmten zehn Thesen zum Design bewahren bis heute ihre Gültigkeit.
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Gutes Design macht ein Produkt brauchbar und Gutes Design macht ein Produkt verständlich. Dies sind wohl die zwei wichtigsten der zehn Thesen zum Design von Dieter Rams.
Als Kind in den sechziger und frühen siebziger Jahren erinnere ich mich gut daran, wie ich im Wohnzimmer an Rams’ Schallplattenspieler und Radio Phonosuper SK 4, 5 oder 6 (um welches Modell es sich handelte, kann ich nicht sagen) die hellgrauen, leicht konischen Knöpfe gedreht habe, um das Radio zu erkunden oder wieder und wieder die Schallplatten der Abenteuer von Störtebeker oder Tim und Struppi zu lauschen. Welche Bedeutung, vor allem welche Neuerung diese weiße Kiste mit den feinen horizontalen Schlitzen des Lautsprechers und der Lüftung der Röhren an der Vorderfront und den zwei schmalen Holzscheiben an den beiden Flanken hatte, wusste ich in jungen Jahren natürlich nicht. Mir ist auch nicht bekannt, wo dieses Prestigeobjekt mit seiner Plexiglasabdeckung abgeblieben ist. Irgendwann, nach mehreren Umzügen, war der sogenannte Schneewittchensarg verschwunden, und die schwarzen Nachfolgemodelle waren kleiner, unscheinbarer, ohne Eleganz. Ich bilde mir ein, dass Rams’ Kiste besonders solide war. Die Klarheit und Einfachheit der wenigen Dinge im Haus der sechziger Jahre ging dann langsam verloren. Die Räume füllten sich, wurden verspielter. Die ursprüngliche Stringenz der Einrichtung einer sich für die „Neue Zeit“ begeisternden Generation war passé. Das ist dann auch in meiner Erinnerung haften geblieben.
Die Geräte von Braun aus der großen Zeit des Industriedesigns gibt es nicht mehr. Aber andere Klassiker von Dieter Rams bleiben Programm. Kann man sie so ohne weiteres verändern? Nein, und wenn, ist es für den Laien kaum zu sehen. So wird ohne große Worte in kleinen Schritten gearbeitet. Befasst man sich mit Rams, fällt das Augenmerk natürlich auch auf die Möbel, die schon seit Beginn von der Firma Vitsœ produziert werden. Neben dem Regalsystem 606 von 1960 – ein wahrer Klassiker –, das kleinere Erneuerungen erfahren hat, die im Februar in Berlin vorgestellt wurden, ist es der Sessel 620 von 1962, ein Möbel, das heute u.a. im Bundeskanzleramt steht.
Man mag diesen Sessel als etwas klobig empfinden. Bei seiner Ausgestaltung ist man aber frei und kann sich den Räumen anpassen. Die Teile des Sessels werden direkt ab Werk im großen Paket verschickt. Die Montage mit einem Spezialschlüssel ist einfach. Die Idee war, dass sich das Sesselprogramm den Veränderungen des Lebens anpasst. Dabei verraten nur die wenigen Schrauben, dass die modularen Komponenten austauschbar sind. So werden problemlos die Armlehnen abgenommen, um einen oder gleich mehrere Sitze anzufügen. Auch die Füße können je nach Bodenbelag gewechselt werden.
Der Sessel wird mit naturbelassenen Anilin-Vollleder angeboten, bei dem auf den Oberflächen natürliche Narben und Falten sichtbar sein sollen. Im neuen Werbetext heißt es: „Dank der klimatisierenden Funktion der unbeschichteten Oberfläche fühlt sich das Leder im Winter warm und im Sommer kühl an.“ Klingt gut, kann aber nicht bestätigt werden. Im Text wird auch verraten, was im Inneren passiert. Der Korpus aus Birkensperrholz ist mit einer Sprungfederkonstruktion versehen. Darüber liegt eine Matte aus Kokosfaser und Naturkautschuk. Die Sesselschale ist geformt aus einem gepressten Material, das glasfaserverstärktem Kunststoff ähnelt.
Bei den Neuerungen, die mit den alten Sesseln kompatibel sind, handelt es sich vor allem um einen neuen, magnetisierenden Schlüssel für die etwas komplizierten Spezialschrauben und Details bei der Optimierung der Polsterung. Zudem wurden im unteren Teil des Korpus Luftlöcher angebracht. So kann Luft entweichen, und es gibt keine Geräusche mehr.
Auch beim Beistelltisch 621, den es im widerstandsfähigen Strukturlack in Schwarz oder Grauweiß immer noch gibt, wurden en détail Verbesserungen vorgenommen. Es bleibt zwar auf den ersten Blick alles beim Alten, doch in Zusammenarbeit mit Rams bekam er verstellbare Füße. Damit sollen unebene Oberflächen ausgeglichen werden und der Tisch leichter zu bewegen sein.
Bleibt zu hoffen, dass mit diesen kleinen Optimierungen wichtige Möbel, hier am Beispiel von Rams, von jüngeren Generationen immer wieder neu gesehen und geschätzt werden.
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