Stoff genug für drei Museen
Nach einem Besuch im neuen Jüdischen Museum in Warschau
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Stoff genug für drei Museen
Nach einem Besuch im neuen Jüdischen Museum in Warschau
Text: Kil, Wolfgang, Berlin
Warschau besitzt ein neues Museum, das der Geschichte der Juden in Polen gewidmet ist. Gebaut nach einem Entwurf des finnischen Büros Lahdelma & Mahlamäki, das sich in einem Wettbewerb 2005 überraschend gegen eine Riege internationaler „Stararchitekten“ durchsetzte (Bauwelt 32.2005), wurde das Haus schon im April 2013 offiziell eröffnet – allerdings vorerst als rein architektonisches Schaustück. Für den eigentlichen Kern der neugegründeten Institution, die Dauerausstellung, brauchte das Kuratorenteam weitere anderthalb Jahre. Nun endlich, seit dem 28. Oktober, ist das komplett ausgestattete Museum übergeben und muss seither einem erheblichen Besucheransturm standhalten.
Ein ruhiger, blassgrüner Quader mit zwei großen amorphen Öffnungen, so steht der Neubau auf einer riesigen Wiesenfläche inmitten von Muranow. Der einst stark jüdisch geprägte Stadtteil war 1940 von den Nazi-Besatzern zum Ghetto erklärt und nach Niederschlagung des verzweifelten Aufstandes vom April 1943 mit besonderer Akribie zerstört worden. Zwei Jahre später begann der Neuaufbau der Stadt mit der Überbauung des vormaligen Ghetto-Geländes, wobei inmitten der nun ausgedehnten Wohnanlagen im betulichen Stil des „Sozrealismus“ eine große Fläche frei blieb für ein Mahnmal zu Ehren der gefallenen Ghetto-Kämpfer sowie für ein irgendwann zu errichtendes Museum. Ein Denkmal des Bildhauers Nathan Rapaport wurde 1947 enthüllt (vor dem Willy Brandt 1970 seinen berühmten Kniefall vollzog). Sechzig Jahre später waren in einer Public Privat Partnership aus Kulturministerium, Stadt und Spendern, vornehmlich aus den USA, rund 110 Millionen Dollar für das Museum aufgebracht.
Für Besucher aus Deutschland liegt ein Vergleich des Warschauer Museums mit seinem Berliner Pendant, dem 1999 eröffneten Libeskind-Bau (Bauwelt 46.1998), nahe. Bei näherer Betrachtung haben beide Häuser aber nur zweierlei gemeinsam: Sie sind keine Holocaust-Gedenkstätten, sondern wollen einem mit jüdischer Lebenswelt nicht vertrauten Publikum die Geschichte und Kultur des Judentums in möglichst vielfältigen Facetten vermitteln. Und weder in Berlin noch in Warschau findet eine spektakuläre Architektur zu den darin gezeigten Ausstellungen den geringsten Bezug. Da allerdings beginnen auch schon die Unterschiede: Während sich in Berlin eine sparsam bestückte Exposition mitunter schwer tut, Libeskinds Raumeskapaden sinnvoll auszufüllen, wurde in Warschau jeder Konflikt mit den theatralischen Raumgesten der Foyerbereiche vermieden und die Dauerausstellung komplett ins Souterrain verwiesen. Dort hat man mit labyrinthischer Wegeführung viele Wände für Präsentationen gewonnen. Dafür wird es da nun aber eng. Sehr eng.
Denn die in acht Kapiteln zu erzählende, reichlich tausendjährige Geschichte erweist sich als uferlos. In der Frühzeit umfasst der Blick den ganzen europäischen Kontinent. Ab dem 16. Jahrhundert empfahl sich das damalige polnisch-litauische Großreich den notorisch Verfolgten aus Ost wie West als Paradisus Judaeorum, entsprechend „polnischer“ wird nun die Perspektive: Mal possierlich, mal derb wird das Leben in der Provinz geschildert, in der Abteilung findet sich aber auch das spektakulärste Exponat: der Betsaal einer vor über hundert Jahren zerstörten Synagoge aus der Gegend um Lemberg, in monatelanger Arbeit von Restauratoren, Studenten und Schülern rekonstruiert und in leuchtenden Originalfarben ausgemalt. Noch überwältigt durch den Rausch der Sakralkultur, betritt der Besucher dann eine völlig andere Welt: rauchende Schlote, Bahnhöfe und Kinos, mondäne Salons. Mit der Industrialisierung gewinnt jüdisches Leben auch zunehmend urbane Züge, ein Stichwort der Neuzeit lautet Zionismus, ein anderes Assimilation. Am Ende verschwinden alle Farben, in krassem Schwarz-Weiß konzentriert sich der Blick auf Warschau, auf das Ghetto und seinen grauenhaften Untergang.
Vom Bildungsort zum Themenpark
Obwohl sämtliche Informationen in Polnisch und Englisch, viele auch auf Jiddisch gegeben werden, ist die Art des Erzählens von polnischem Selbst- und Geschichtsbild bestimmt. Das permanente Ineinanderfließen von polnischer und jüdischer Historie ist Gründungsimpuls des Museums und macht, nicht nur aus „patriotischer“ Perspektive, durchaus Sinn. Bloß auswärtige Besucher müssen sich anstrengen; ohne wenigstens grobe Kenntnis der bewegten Staatsgeschichte Polens kann man sich hier schnell verlieren. Es sei denn, man bucht eine Audiotour oder schließt sich einer Gruppenführung (auch auf Deutsch möglich) an.
Eine ganz anderes Problem erwächst aus der Spezifik des Gegenstandes: Mit der Vernichtung der europäischen Juden ging auch deren materielle Kultur, der ganze Kosmos an Sachzeugen, weithin verloren. In Warschau verfügt das 1947 gegründete Jüdische Historische Institut über eine beachtliche Sammlung von Artefakten, Archiven, Nachlässen und Forschungsarbeiten, weshalb man sich für das neue Museum auf Anraten Jeshajahu Weinbergs, Designer des Holocaust Memorials in Washington, für ein „Erzähl-Konzept“ entschied. Vom großen Lauf der Geschichte wurden möglichst prägnante Vorkommnisse ausgewählt und mit „jeweils angemessenen Mitteln“ in Szene gesetzt. Nun hat sich das Spektrum solcher Mittel in jüngster Zeit stark erweitert, dank IT-gesteuerter Beamer-Schwärme und interaktiver Touchscreens lässt sich auf Schritt und Tritt
jedes Thema bis zur Dissertationsreife auffächern. Und dann beginnen Eventdesigner, im Banne weltweiter Comic-Begeisterung, Holzstiche des Biedermeier im Stil von Monty Python zu animieren. Man kann des Guten auch zu viel tun.
jedes Thema bis zur Dissertationsreife auffächern. Und dann beginnen Eventdesigner, im Banne weltweiter Comic-Begeisterung, Holzstiche des Biedermeier im Stil von Monty Python zu animieren. Man kann des Guten auch zu viel tun.
Im Grunde wurden hier drei Museen in eines gezwängt. Schon beim zweiten Anlauf folgen überforderte Besucher den diskret ins Labyrinth eingestreuten Exit-Pfeilen. Kein ernsthaft historisch Interessierter schafft pro Rundgang mehr als einen der drei Themenkreise: Entweder Mittelalter und ländliche Schtetl-Kultur. Oder Industrialisierung und urbane Moderne. Oder Holocaust. Und diese Unterteilung folgte nicht bloß historischen Umbrüchen, sie ließe sich auch am Wandel der Exponate festmachen: Mussten bis ins späte 18. Jahrhundert vor allem Stiche, Gemälde und Textfolianten als Bildquellen herhalten, so steht ab dem 19. Jahrhundert die Fotografie als neues Auskunftsmedium zur Verfügung, seit dem I. Weltkrieg sogar der Film. Mit wachsender Detailschärfe der Überlieferungen werden nun auch die Inszenierungen immer realistischer, verführen zu Nachbauten eines Fahrkartenschalters (samt Bahnhofsgeräuschen), eines Zeitungskiosks, eines Künstlercafés. Auf dem Buckelpflaster einer Vorstadtstraßen-Kulisse mit Gaslaterne ist sie dann definitiv überschritten, die Grenze vom Bildungsort zum Themenpark.
Und doch sollten Architekten das neue Museum unbedingt besuchen, nicht nur wegen der dramatisch aufschwingenden Wandelhallen. In der Dauerausstellung sind es oft Stadtmodelle und Haustypologien, an denen Eingemeindung und Segregation, also Integrations- wie Kontrollversuche historischer Einwanderungsgesellschaften, erklärt werden. Freunde der Holzbaukunst finden Zeichnungen und Fotos (durchweg verlorener) Synagogen und anderer Gemeindebauten von unglaublicher Vielfalt und Dimension. Insgesamt aber sollte die Überfrachtung mit medialen Effekten zu bedenken geben, ob der aktuelle Ausstellungstrend zum technisch aufgemotzten Informations-Overkill nicht längst an Grenzen stößt. Mit einer Stippvisite jedenfalls ist es in diesem Museum nicht getan.
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