UC.
Text: Geipel, Kaye, Berlin; Schade-Bünsow, Boris, Berlin
UC.
Text: Geipel, Kaye, Berlin; Schade-Bünsow, Boris, Berlin
31 Jahre, von 1957 bis 1988 war Ulrich Conrads Chefredakteur der Bauwelt. Mit seinen Texten hat er Architektur und Städtebau der Nachkriegszeit geprägt. 1963 gründete er die Buchreihe Fundamente, ein Jahr später die Stadtbauwelt und 1981 Daidalos. Der Chefsessel war für ihn „Sessel zwar, doch unbequem, paradoxerweise Stehvermögen voraussetzend, vor allem aber Zielsicherheit und Entschlusskraft“. Am 28. September ist Ulrich Conrads in Berlin gestorben.
„Das hört mir auf!“ Ulrich Conrads lässt den ersten Satz so abrupt enden, wie er begonnen hat. Er unterläuft die Erwartung an seine Rede, blickt auf – bevor er mit einer Parabel zur Geschichte Athens beginnt – und schiebt so die Verantwortung fürs Mitdenken erst einmal in den Zuhörerraum. Die Episode spielt 1980, zu Beginn der Berliner IBA-Zeit, Conrads hält die Festrede auf Schinkels Geburtstag. Mit der Doppeldeutigkeit des ersten Satzes stellt er auch gleich die Frage, ob die anwesenden Architekten von „ihrem“ Baudirektor, der vor ihm geredet hat, nicht zu viel erwarten. Conrads beherrschte solche mehrfach lesbaren Zäsuren. Sie gehörten zu seinen Texten wie zu seinen Reden, sie gehörten zu dem wendigen Ton, mit dem er brisante Themen von allen Seiten in die Zange nahm.
Conrads hat sich seit Beginn seiner Karriere solche argumentativen Freiräume erarbeitet, weil sie für sein Verständnis der Rolle des Kritikers im Dienst der Architektur entscheidend waren. „Ich bin kein Planer, kein Wissenschaftler, kein Ökonom, kein Politiker; ich bin noch nicht einmal Architekt“, so hat er seine grundsätzliche Distanz einmal charakterisiert. Gemeint war: Abgrenzung gegen die reine Fach-Argumentation. Schon das Wort „professionell“ war ihm ein Greuel, weil er darin das unpolitische Völlig-Eins-Werden mit dem betrachteten Gegenstand verkörpert sah. Was der Architekturkritiker zu leisten habe, hat er 2002 in einem Vortrag an der Uni Cottbus vorgetragen. Dort stellt er, neben der Neugierde auf alle Formen von Gesellschaft, eine unverzichtbare Forderung an diesen Berufsstand: Der Kritiker müsse alles, wirklich alles, worüber er schreibt, selbst in Augenschein genommen haben, „von den Kellern bis unters Dach“. Für diese Forderung hatte er einen Namen: die unbedingte Liebe zum Maßstab 1:1. Darin lag schließlich sein Verständnis von Architekturkritik: Die Analyse und die Erkenntnis zu Architektur und Stadt kann nur aus der räumlich-leiblichen Erfahrung entstehen. Das Beharren auf dem unmittelbaren Erlebnis, die Fähigkeit, politische Ursachen von Projekten auf den Punkt zu bringen, verbunden mit dem Ziel, „anderen drei Tage voraus zu sein“, erhoben ihn zu einer Leitfigur der bundesrepublikanischen Architekturszene und, während der letzten drei Jahrzehnte des Kalten Krieges, zur Idealfigur des Chefredakteurs der Bauwelt.
Schon in den fünfziger Jahren hatte Conrads an Corbusiers städtebaulichen Planungen, an der Banalität des „grids“, die „Versimpelung des Denkens über Wesenszüge der großen Stadt“ kritisiert. Zur gleichen Zeit widmete er der Kapelle von Ronchamp einen wunderbaren, politischen Essay, der der Schlüsselfrage dieses Gebäudes auf die Spur kommt: eine gültige monumentale Form zu entwerfen, ohne den Betrachter zu überwältigen. Dass das Kürzel, mit dem Conrads seine Texte zeichnete, dem des großen Architekten ähnlich war, war wohl eher Zufall. Neben seiner Rolle als Kritiker hat sich UC. immer auch als Produzent, als Einmischer und als Ermöglicher von herausragender Architektur verstanden. „Mies van der Rohe muss in Berlin bauen!“: Seine Kampagne mit rotem Bauwelt-Aufkleber ist weithin bekannt, und sie hat dem amerikanisch-deutschen Meister der Moderne in der geteilten Stadt den roten Teppich ausgerollt. Es gab viele andere, die er in ihren Bauten ebenso begleitet hat. Rudolf Schwarz, Hans Scharoun, Architekten, die man heute einer kritischen selbstreflexiven Moderne zurechnen könnte. Sein politisches Engagement reichte über die Berliner Mauer hinweg: An Erich Honecker hat er 1987 einen Offenen Brief geschrieben und Aufklärung über zwei Ostberliner Architekten gefordert, die unter anderem wegen ihrer Teilnahme am Westberliner Ideenwettbewerb für die Topographie des Terrors ins Gefängnis gesteckt wurden.
Mit der Postmoderne der achtziger Jahre ging Conrads hart ins Gericht. Heinrich Klotz’ Ausstellung zur Postmoderne – mit ihr wurde der Ungers-Neubau des Frankfurter Architekturmuseums eröffnet – hat UC. mit „Hochspielung ästhetischen Scheins“ und „Rettung der bürgerlichen Sehnsucht nach Freiheit ins repräsentative Spektakel“ quittiert. Klotz konterte mit dem Bild des „eifernden Chefredakteurs“, der „die Aufgeklärtheit, den Fortschritt und die Vernunft für sich beansprucht“.
Im Rückblick und Blick auf sein Leben und sein Werk ist Conrads’ Haltung zu Architektur und Städtebau viel offener, als es eine solche Gegenüberstellung vermuten ließe. Sein individuell gelebtes Verständnis von Moderne zeigt sich in der Haltung, mit der er sein eigenes Haus bewohnte: 1965 vom Scharoun-Mitarbeiter Heinz Schudnagies erbaut, ist sein wichtigstes Merkmal der über mehrere Halbgeschosse bis unters Dach fließende Wohnraum, der Bücherwände und Gesprächsebenen in einer Spiralbewegung miteinander verschränkt. An deren höchsten Punkt, dort wo der Blick durch das steil geneigte Pultdach-Fenster in die Baumwipfel von Frohnau führt, steht der Schreibtisch. Anstelle des Ausblicks in den Garten ist der Tisch von den gerade bevorzugten Büchern und einer Bildserie der anonymen kretischen Architektur flankiert, seinem bevorzugten Reiseland mit eigenem Refugium.
Ohne formale Vorlage zu sein, entsprach die Form des minoischen Labyrinths seiner Idee des Urbanen. Die erste bekannte Abbildung eines Labyrinths, gefunden um 1240 v. Chr. als Ritzzeichnung auf der Rückseite eines Tontäfelchens, war über Jahre hinweg das Logo von Daidalos, jener Zeitschrift, für die er nach seinem Abschied aus der Bauwelt Ende 1988 noch zehn weitere Jahre als Chefredakteur arbeitete. Sie war auch ein zweites „Kürzel“, das ihn begleitet hat. In einem seiner typisch knappen und aufgeladenen Sätze schrieb er: „Die Stadt-Zeit des späten 20. Jahrhunderts ist die Zeit des Labyrinths.“ * Kein großes Leitmodell, sondern eine Stadt der Ideen, entwickelt aus politisch normaler Konstellation, aber so kontext- und lebensbezogen wie möglich.
Dieses Labyrinth machte er den Lesern in den knapp 31 Jahren bei der Bauwelt einsichtig. Wenn wir heute durch die Hefte blättern, beeindruckt uns vielleicht am meisten, dass Conrads den wirklichen Prüfstein seines 1:1-Maßes der Architektur im alltäglichen städtischen Wohnen sah. Immer wieder von Neuem ging er der Frage nach, unter welchen ökonomischen und politischen Bedingungen aus Wohnarchitektur Stadt produziert werden kann. Mit welch gnadenloser Insistenz er Defizite benannte und wie er um das normale Wohnen kämpfte, zeigen die legendären Bauwelt- und Stadtbauwelt-Hefte zu den Großsiedlungen der Nachkriegszeit, in denen er scharf zwischen städtebaulichem Willen und ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen unterschied: „So habe ich denn auch“, schrieb er 2006 im Rückblick, „die Bezeichnung sozial in Sachen Wohnungsbau stets GROSS geschrieben, damit diese Eigenschaft nicht mit einem Maßgaben- und Finanzierungsmodus verwechselt werde.“
1978 war er als Juror eines neuen Wettbewerbs des Bundesministeriums eingeladen, in Deutschland die „Stadtgestalt und Denkmalpflege im Städtebau“ zu untersuchen. In einer wahrhaft heroischen, mehrwöchigen Fahrt ist die Jury mit einem „langsamen Bus“ durch das Land gefahren und hat vorbildliche Projekte in Dutzenden von Städten und Gemeinden begutachtet. Der Versuch, die ganze Realität des bundesdeutschen Planungsalltags in Augenschein zu nehmen, hat ihn gereizt, und er empfahl ein solches Verfahren, in etwas abgewandelter Form, noch vor kurzem der Stiftung Baukultur. Conrads hat diese Reise in einer Folge von Beobachtungen zusammengefasst, die heute aktueller sind denn je. Ist das Einbeziehen „aller deutschen Orte“ in baukulturelle Zielsetzungen, so seine Frage, bloß eine Sache fetter Jahre gewesen? Die Reise erforderte Kraft, und so endet der Aufsatz über die Deutschland-Reise mit dem aufgebrachten Satz: „Es nagt stille Wut in einem. Man hat über Wochen die eigene Zeit entbehrt.
Wer formuliert die Aufgabe?
Ein weiterer Beitrag zu einem wenig begangenen Thema
Bauwelt 30.1957
Ein weiterer Beitrag zu einem wenig begangenen Thema
Bauwelt 30.1957
Welche Art von Gesellschaft wollt ihr? Mit dieser Frage von Max Frisch ist in der Tat die geheime Sehnsucht aller Planer und Architekten angerührt. Sie gäben etwas darum, könnten sie die Antwort erfahren. Aber eine präzise Antwort gibt es nicht, kann es nicht geben; und darum scheint die Frage falsch gestellt. Die Gesellschaft von heute kann nicht die Gesellschaft von morgen wollen. Die Gesellschaft – zumal in einer demokratischen Ordnung – kann sich nicht selbst im voraus entwerfen und zum Ziel nehmen. Es gibt kein besseres Beispiel dafür als die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland seit 1945. Niemand hat damals, noch einmal davongekommen, die Gesellschaft von heute gewollt, obgleich er selbst deren Glied, Mit-Glied, ist. Und man kann gewiß nicht sagen, daß diese zwölf Jahre politisch indifferent waren, daß es an Zielen gefehlt hat oder an der Bewußtmachung dieser Ziele. Im Gegenteil. Und dennoch ist die Entwicklung, auch gesellschaftlich gesehen, ganz anders verlaufen.
Aber wir haben eines gelernt, nämlich, daß unsere Gesellschaft nicht plötzlich, erwachend aus einer Partei- und Kriegsdiktatur, hoch auf allen Rössern zu neuen Ufern strebte. Wir ha-ben lernen müssen, daß die Gesellschaft keinen Schritt macht ohne Notdurft, daß sie keine Änderung zuläßt, ohne daß nicht zuvor Unzulänglichkeiten sich als solche erwiesen und eine neue Wunschwelt geweckt haben. Alle Vorhaltungen und Vorschläge gehen fehl, wo sie nicht auf ein bereits gewecktes Bedürfnis stoßen.
Die Manager der Konsumgüter-Industrie haben es verstanden, solche Bedürfnisse zu wecken. Den Architekten und Stadtplanern ist es augenscheinlich mißlungen. Die Gesellschaft hat den Eisschrank gegen den elektrischen Kühlschrank eingetauscht. Aber sie ist noch weit davon entfernt, ein altes Wohnen gegen ein neues eintauschen zu wollen. Und die neue Stadt gar ist für die Gesellschaft, in der wir leben, noch immer ein utopischer Begriff.
Wir wollen uns da nichts vormachen. Denn nicht nur das Flick- und Verlegenheitswerk, mit dem man der Notdurft des Verkehrs zu steuern sucht, beweist es. Wo immer neue Planung und Architektur in die Intimsphären der Gesellschaft eingreifen, betrachtet die Gesellschaft das Ergebnis mit verwunderten Kinderaugen, so, als wollte sie sagen: Soll das für uns sein? Das wird doch sicher wieder abgerissen? So lautete wörtlich die bislang „dümmste“ Besucherfrage auf der „Interbau“. Wir sollten diese dümmsten Fragen für die klügsten halten, denn hier offenbart sich am Extrem das Maß der Unkenntnis und damit auch der Humbug aller „Wohnbefragungen“. Alte Stadt oder neue Stadt – das kann so lange keine Alternative abgeben, solange nur wenige der Befragten wissen, was die neue Stadt ist und wie sie aussieht. Und die Wohnbefragungen können nur höchst zweifelhafte Ergebnisse zeitigen, solange ein neues Wohnen nur als vage und mit Vorurteilen behangene Vorstellung in den Gemütern haust. Wer kann da als von einer echten Entscheidung reden?
Es ist also noch eine Weile hin bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir so optimistisch sein dürfen, von der Gesellschaft ein echtes Votum für unser Planen und Bauen zu erwarten. (...)
Niemand aber wird bezweifeln, daß der Planer heute, in unserer Gesellschaft, ohnmächtig ist. Und daß er ohnmächtig bleiben wird, solange er sich weigert, sich für sein Wirken auch die politische Macht zu sichern. Die Zeit des Suchens ist vorbei, schrieb Walter Gropius vor fast Jahresfrist an die CIAM. Nun muß eine Periode des Handelns folgen. Es ist Aufgabe einer neuen Generation, für den neuen Städtebau systematische Propaganda zu treiben und sich die politische Macht zu erkämpfen, die nötig ist, um aus der Vorgeschichte des modernen Städtebaues eine Geschichte des Städtebaues zu machen. UC.
Gedenken an Rudolf Schwarz
1897 Straßburg – 1961 Köln
Bauwelt 16.1961
1897 Straßburg – 1961 Köln
Bauwelt 16.1961
Wir haben uns nur noch selten gesehen in den letzten Jahren. Rudolf Schwarz fand es scheußlich von mir, daß ich nach Berlin ging und damit Raum und Rahmen eines Gesprächs verließ, in das er so Gewichtiges und so viele Hoffnungen eingebracht hatte. Nun bin ich bestürzt, daß er für immer schweigt. So abrupt. Aber es war seine Art: er hat nie viel Federlesens mit Gesprächspartnern gemacht. (...) Rudolf Schwarz hatte eine seltsame Art, an einem vorbeizusehen, immer ein wenig nach unten; auf den Fußboden oder aufs Tischtuch oder aus dem Fenster. Seine große Stirn war immer etwas geneigt. Man mußte das für Mißachtung halten, solange man ihn nicht besser kannte. Auch sprach er selten anders als nebenhin und wie für sich. Er war ein großartiger Egozentriker. Das stieß viele ab. Er versteckte sich hinter spitzen, oft verletzenden Grobheiten. Er spottete, indem er jemanden Meister titulierte, der kein Meister war. Er verachtete die schreibenden Ästheten und war mitleidlos mit jeglicher Unbildung. Ja, er gab sich den Anschein, er sei der einzige Gebildete. Und der Satz, daß Walter Gropius offenbar nicht denken könne, niemals gelernt habe, was nun einmal im abendländischen Raum Denken heiße – dieser Satz war der böseste, der in vielerlei Hinsicht verheerendste und sicher fruchtloseste, den ein Baumeister nach dem letzten Krieg gesagt hat. Um dieses Satzes und einiger Chauvinismen willen hätte gleich meine erste Begegnung mit ihm, dem soviel älteren, auch meine letzte sein müssen. Aber wir sahen uns wieder: er war der Standfestere und vor allem: er war mir – vorerst – unbegreiflich. Der so sprach, hatte die Aachener Fronleichnamskirche gebaut?
Erst Jahre später verstand ich die bittere, ätzende Schärfe seines Umgangs. Sie war ihm eine letzte verzweifelte Form der Frage, auf die sich niemand außer ihm mehr einlassen wollte: der Frage nach dem Sinn, der Frage nach dem Inhalt des Bauens. Funktionen zu umbauen (also Namenloses – Funktion ist immer namenlos), Funktionen als Aufgabe, Ziel oder gar Doktrin von Architektur zu akzeptieren, das war ihm unter seiner Menschenwürde. Diese Würde hatte für ihn einen ganz bestimmten Inhalt und Umriß. Er sah in ihr eine spezifische Leistung des Abendlandes: „Die Tradition haben wir!“ Er begriff nicht – auch nach der Katastrophe 1933–1945 nicht – den fast widerstandslosen Ausverkauf europäischen Geistes. Immer sah, wertete und achtete er nur das Sinn-bildliche Verbindliche, Festbezogene, das in diesem Sinn auf abendländischer Tradition Gründende: „Architektur als heiliges Bild.“ Da fühlte er sich nicht nur alleingelassen: er war es in der Tat. Rudolf Schwarz war einsam. Wo er sprach, war es – bei aller dringlichen Mitteilsamkeit – ein Selbstgespräch oder – auf dem Untergrund tiefer, verborgener Traurigkeit – die bare Provokation von längst nicht mehr Provozierbarem.
Es war sein Schicksal, daß er nicht hinter seinen Ansprüchen zurückbleiben konnte, nicht feige sein konnte, nicht resignieren konnte. Er war gläubig und liebte seine Skepsis, er war kritisch und haßte seine Hellsichtigkeit, er war wie blind vor manchen Spielarten neuer Kunst und lebte der neuen Baukunst als seinem Welt- und Gottesdienst.
Immer wieder versuchte er bei seinen Bauten die große, umfangende Form, den geschlossenen Kasten, die bergende Rundung, den Schutzmantel. Immer wieder spannte er das pathetische Wort als Mantel um seine Gedanken, so als wolle er sein Verletzlichstes dem Zugriff des Banalen entziehen. Er hat dafür manch bitteren Preis zahlen müssen, auch an und in seinen Bauten: Mängel und Kunstgewerbe. Das, was versierte Techniker „finish“ nennen, blieb ihm zeitlebens nebensächlich. Er verkroch sich vor den Fotografen. (...)
Als ich vor Wochen sein letztes Buch „Kirchenbau“ aufschlug, war ich überrascht, darin sein Lebenswerk zu finden, von ihm selbst beschrieben und erläutert. Nun kann ich antworten auf das, was Rudolf Schwarz dort schreibt: „Ein Menschenleben wird von vorsehenden und beistehenden Mächten verdankt, die ewig beschwiegen sein sollten, wenn es nicht angeht, das eigene Leben in eine große Preisung einzubringen, wie es Augustinus versucht hat.“ Nein, lieber verehrter unbescheidener grimmiger arroganter spöttischer gläubiger Meister Rudolf Schwarz: Ihr eigenes Leben, Bauen und Tun war eine große Preisung. Wir Zurückbleibenden wissen es da einmal besser als Sie. UC.
Richard’s Waldeslust
Richard Neutra im Wald bei Walldorf
Bauwelt 21.1961
Richard Neutra im Wald bei Walldorf
Bauwelt 21.1961
Richard Neutras Häuser im Wald bei Walldorf, südlich des Rhein-Main-Flughafens, werden – wie man hört – nicht nur 20 % weniger als vergleichbare andere Häuser kosten, sondern dem bislang so gut wie unbekannten Ort ein – wie Neutra meint – Stück europäischen Renommees gewinnen. Schon sind die 400 Häuser, (...), per Presseauskunft zu einer „supermodernen Gartenstadt“ aufgeputzt. Die geringen Baukosten errechnen sich aus der Verwendung vorfabrizierter Teile (mit viel Holz); das Renommee kommt aus der – nach Neutra – engen Verbindung amerikanischer und europäischer Baugesinnung. Aus Gesinnung jedenfalls entstand das Projekt, 400 Patio- und Atriumhäuser in ein 35 ha großes Waldgelände zu setzen, wobei so gut wie jeder Baum erbalten bleiben soll. Denn der Wald ist ja hier nicht nur grüne Lunge, er ist schallschluckender Schirm gegen den Düsenfluglärm: Die Siedlung (...) liegt zwar außerhalb der Ausflugsektoren des größten deutschen Flughafens, aber noch mitten in dessen Bauschutzbereich und später nur runde 2500 m neben der projektierten südlichen Hauptstartbahn.
Richard Neutra offenbarte, daß er mit größter Sympathie und Hingabe an dieser Aufgabe gearbeitet habe. Es bestehe die einzigartige Gelegenheit, weltweite Erfahrungen im Bauen in der Nähe eines großen Tors nach Europa, des Rhein-Main-Flughafens, zu verwirklichen. „Wir wollen versuchen, Menschen nicht zusammenzupferchen oder übereinanderzutürmen. Es soll vielmehr alles getan werden, die kommende Dichte menschlichen Wohnens der Zukunft mit Einsicht und seelischer Einfügung in Gegebenes, Umgebendes und biologisch Notwendiges zu verwirklichen.“
Also sprach der eloquente Architektur-Physiologe und schämte sich nicht. Wahrhaftig, Wohnbebauung am Flughafenrand ist supermodern, und 46 Menschen pro Hektar sind großartig. Sollten sich die Städte einmal auflösen und die Bevölkerung sich über das weite Land gleichmäßig verteilen, so ergäbe das hierzulande (...) eine Bevölkerungsdichte von nur 2,1 Menschen/Hektar. Also gehen für den, der im Flugzeug sitzt und seinen Beschluß über die kommende Dichte menschlichen Wohnens der Zukunft gefaßt hat, noch 43,9 Menschen hinein in den Wald. (...) UC.
Neuer Spielraum
Die Philharmonie von Hans Scharoun
Bauwelt 1/2.1964
Die Philharmonie von Hans Scharoun
Bauwelt 1/2.1964
Der erste Eindruck war gewaltig. Er ist gewaltig für jeden, der da kommt und das Konzerthaus zum ersten Male sieht und betritt. Schon wer auf den Bau zugeht, hat Abschied zu nehmen, Abschied von Vorstellungen, die mit dem Begriff Haus zuallererst Fassaden meinen. Man muß den vorgefaßten Begriff sogleich reduzieren und nennt, was da vor einem sich aufbaut inmitten der noch leeren und nach Osten hin sinnentleerten Stadtlandschaft – nennt es einfach ein „Gebilde“. Nennt es bizarr, vielleicht auch gewalttätig, möglicherweise häßlich. Man sucht nach Assoziationen, die sich nicht einstellen wollen. Man pilgert die Baugeschichte auf und ab; später, in Foyer und Saal, entfährt einem das Wort: barock! Aber da ist es schon zu spät: man ist schon ein Gefangener des Neuen, dieses ganz und gar Authentischen, alle Vergleiche Abweisenden. Tal und Himmelschaft und Weinberge – Scharouns Umschreibungen sind schon zu oft zitiert, als daß man sie noch einmal in Anspruch nehmen möchte. Piranesi, Dampferarchitektur, Labyrinth – ein wenig dies und das; aber auch solche Bezeichnungen greifen nicht zu, fassen nicht das Ganze. Vorstellungen, Begriffe, Assoziationen sind keine Hilfen mehr. Die Sprache bleibt leer. Was also soll man sagen? Man sagt: Der erste Eindruck ist gewaltig, rührt einen an, geht unter die Haut, macht unruhig.
Man sagt: Ihr redet immer von spannungsreichen Räumen und Raumfolgen; hier aber war erst einmal ich gespannt. Wohin würde dies führen, wie würde es enden, wo geht es hin-aus? Kaum hat man die Eingangszone hinter sich, da weiß man: Auch hier ist Logik am Werk, uneinsehbare zunächst. Aber sie führt. Schon führt sie, auf Entscheidungen wartend. Wer die Garderobe abgegeben hat, ist frei. Irgendwo in diesem zunächst labyrinthischen Bau ist Dein Platz im Saal, auf der Karte verzeichnet mit einem Großbuchstaben, mit Reihe und Sesselnummer. Rechts oder links? Wer es eilig hat, kann auf die Farben der Hinweisschilder achten. Aber es müssen Wege sein von jedem Platz zu jedem Platz. Man erwartet das einfach. Warum eigentlich? Was berechtigt zu dieser Erwartung? Sind es erste Anfänge des Begreifens, des Sich-heimisch-Fühlens im scheinbar Fremden? Man steigt Treppen und merkt es nicht, man geht seinen Weg und sieht ihn nicht voraus. Die Treppen geleiten, und die Wege sind bereits vorausge-sehen. Weiß denn ein Architekt, wie Menschen gehen? Dieser hier wußte es. Wie und wo Scharoun dieses Wissen gewonnen hat, bleibt sein Geheimnis. Es gibt Begegnungen im Unbewußten. (...)
Scharoun demonstriert nach allen Regeln, was räumliches Denken zur Folge hat: eine Baugestalt, die nicht anders erfahrbar ist als im Durchschreiten der Raumfolgen, Raumfluchten, der sich verdichtenden und sich unversehens wieder auflösenden räumlichen Durchdringungen. Im Hinaufsteigen und Hinabgehen zumal wird deutlich, welche Kraft dem scheinbar sanften Eigensinn der Baugestalt innewohnt, mit welch eminenter raumbildnerischer Kraft diese Gestalt durchgesetzt ist gegen die Verführungen unverbindlicher Phantasie. Wem bislang Scharouns Denkbilder vieldeutig oder gar verschwommen schienen, begreift nun – kann nun begreifen –, was ihnen in Wahrheit zugrunde liegt: die strenge Logik von Abläufen, Bewegungs- und Zeitabläufen. Hier gilt nicht einfach die selbstherrliche Ordnung flächiger oder räumlicher Raster; hier gilt eine Ordnung, die aus den strukturierenden Kräften gewonnen ist und diese Kräfte zu einer Wirklichkeit, zu gebauter Wirklichkeit bindet; zu einer aus Stadt, Landschaft, Ort, Gesellschaft, Zweck, Konstruktion, Materialund Technik gewonnenen Wirklichkeit. Gewonnen kraft künstlerisch-poetischer, aber auch konstruktiv-technischer Zusammenschau.
Im Saal dann, auf irgendeinem der 2200 Plätze, weiß man, wie wesenheitsbedingt alles das ist, was man sah und durchschritt bis hierher; die Negierung des Fassade-Machens, die scheinbare Ungebundenheit der äußeren Erscheinung, die nicht sofort einleuchtende Verteilung und Form von Fenstern, Oberlichtern, Wanddurchbrüchen, Ausstülpungen, Terrassen; dann das „Labyrinth“ des Foyers und der Saalzugänge, der Galerien und Treppen und Umgänge. Nun begreift man in alledem die Wesenheit des Baus.
Man erinnert sich an das, was Scharoun vor dreizehn Jahren, beim Darmstädter Gespräch 1951, sagte: „Es ist meine Vorstellung, durch das Gliedern etwas sichtbar zu machen. Dies Gliedern geschieht entweder durch Wirksamwerdenlassen bestimmter Zusammenfassungen aus dem Additiven, das ich mit dem Flächenhaften gleichsetze, oder aus strukturierender Kraft. Darin bestehen die beiden Gegensätze des Schöpferischen – der eine wirkt und arbeitet in der Hauptsache aus dem Additiven heraus, ich aus einer anderen Ecke heraus, nämlich aus dem Strukturieren. Das sind Dinge, die sich eben einfach unterscheiden. Aber sie führen ja beide zu etwas ...“
Hier, in der Berliner Philharmonie, aber hat Scharouns Weg nicht einfach nur zu „etwas“ geführt, sondern zu einem Werk der Weltarchitektur. Der Bebauung der Erde ist hier ein neuer Spielraum gewonnen, jenseits der Ernsthaftigkeit, die – sieht man genau hin – nichts anderes ist als das Kennzeichen einer unerkannten Weltangst. Mitten im nackten Egoismus einer auf reine Ausnutzung bedachten Zweckwelt, aus der Kult, Religion, Kunst und Spiel geflohen sind, mitten in einer Welt voll „grotesker, aber streng vernunftmäßiger Greuel“ ist auf einmal Spielraum. In weitem Sinn. Mit dem Spiel ist Ernst gemacht.
Es sind nicht nur die Tabus des „funktionellen“ Bauens gebrochen, es sind auch die hochgelobten Methoden bisherigen industriellen Bauens als ein Betrug an uns entlarvt worden. Weder Baukasten- noch Lochkartensysteme, weder Konstruktions noch Baumethoden – wie immer sie auch heißen mögen – können aus sich hervorbringen, was wir Architektur nennen und für das wir das deutsche Wort Baukunst haben. Niemand wird deswegen Rechnungen und Methoden, Technik und Detail verachten. Bauen aber ist ein anderes, ist – wir lasen es unlängst – eine Auslegung des Lebens. Solches Bauen allein ist wesentlich, setzt Maßstäbe. UC.
Lack ab
Das Centre Pompidou in Paris
Bauwelt 19.1980
Das Centre Pompidou in Paris
Bauwelt 19.1980
Wohl ist es wahr, daß das Centre Pompidou in Paris kraft seiner futuristischen Erscheinung und ebenso kraft seiner besonderen und – zu-mal was die Wechselausstellungen betrifft – unvermindert faszinierenden Inhalte Tag für Tag mehr Menschen anzieht als irgendeine andere kulturelle Institution in der Alten Welt sonst. Und ebenso unbezweifelbar ist es, daß es kaum einen Bau des letzten Jahrzehnts gibt, der seine Umgebung zu deren Heil, aber auch Schaden so aufgewertet hat, wie diese kollossalische Stahlrohrkonstruktion. (...)
Jüngst fiel uns bei genauerem Zusehen aber ebenso deutlich auf, was als funktionelle Schwächen zu bezeichnen noch Lobhudelei wäre. Das Ding funktioniert nur, weil die Menschen beharrlich unter ihm zu leiden sich bereit finden ... Sie begeben sich aus freien Stücken in einen Pferch und anschließend auf Zwangswege, gegen die jedes größere Kaufhaus à la KaDeWe noch eine erholsame Exkursion bedeutet. Am Ende sehen sie was, natürlich. Aber sie sehen auch auf abgesperrte Dachterrassen, stehen vor verschlossenen Durch- und Ausgängen, und unversehens wird für sie auch das Wiederhinausgelangen zum einfältigen Geduldsspiel. Die zahlreichen Aufzüge an der Installationsseite des Gebäudes, dem ,Verdauungstrakt der Kultur‘, wie man sie nennt, sind für wer weiß wen reserviert, befördern also weder Publikum noch jene Besucher, die im Haus aktiv zu tun haben, etwa zur Verwaltung wollen. (...) Die findet man in einem düsteren Großraum zwischen und hinter halbhohen, gartenzaungrün gestrichenen Absperrungen sitzen, wo sie ein ausgesprochenes Treibhausklima atmen und sich vergeblich nach zureichenden Schallschutzvorkehrungen umhören. Atmosphärisches Stichwort: Hinterbühne in einer Umbaupause. Spätestens hier fällt ... einem die Klempnerarchitektur en detail ins Auge, die das Ausfüllen der – nach wie vor achtunggebietenden – Tragkonstruktion notwendig gemacht hat. Ich wär’s zufrieden, man könnte den Ausbau ruppig nennen. Er ist aber nicht ruppig, sondern nach drei Jahren Beanspruchung bereits an vielen Ecken und Anschlüssen von jener Schäbigkeit, gegen die auch größere Reparaturkolonnen machtlos erscheinen. Man assoziiert gleich schon Demontage. (...) UC.
James Stirling,der Scheinheilige
Erweiterung der Staatsgalerie Stuttgart
Bauwelt 20.1984
Erweiterung der Staatsgalerie Stuttgart
Bauwelt 20.1984
(...) Es gibt Leute, die machen etwas provozierend Lustiges an einem Ort, an dem man das nicht erwartet, und klatschen sich vor Vergnügen auf beide Schenkel, wenn die Düpierten mit offenen Mäulern dastehen. So einer ist Stirling nicht. Aber wenn er seinen Galeriebau unten, vor den Autos, ägyptisch, vor und inmitten der Präsentationsräume renaissancistisch-klassizistisch und ganz oben am Hang modernistisch à la Corbu anhaucht, ... soll doch wohl Freude bei uns aufkommen, Freude am Wiedererkennen, am Entdecken. Und in der Tat, wer wird es nicht spaßig finden, daß der „Zufall“ etliche sorgfältig bearbeitete Steinquader aus der Basismauer gestoßen und davor aufs ansehnlichste arrangiert hat? Natürlich zeigt sich da jedermann erst einmal amüsiert. Frech, nich? Aber dann drängt sich einem eben doch jene Absicht auf, welche verstimmt. Und so ist es auch mit den vielen anderen Schein-Zitaten, die dem schwer an sich selbst tragenden Bau mit Munterkeit auf die Sprünge helfen sollen. Nur: auch das optische Gewicht selbst ist Schein: Format, Verband und Farbe der Fassadenplatten sollen 70, 80 cm Massivität vortäuschen, welche Täuschung sogar, bewiesen‘ wird dort, wo um die Ecke herum die Steinplatten von einer Putzfassade abgelöst werden.
Schein also steht da gegen Schein, Schein-Zitat gegen Schein-Zitat, Bauweise gegen Bauweise. Kräftiges trägt nichts, Leichtes hat zu tragen. Welcher Dialektik noch einige Farbspiele aufgesetzt werden, von Stijl und Bauhaus bis zu Pop und Pink und Punk. Und zwischen all diesem leider bloß Witzigen taucht dann plötzlich mit der geschwungenen Foyer-Glaswand ein wirkliches Meisterstück moderner Architektur ins Blickfeld, etwas, was Stirling so leicht kei-ner nachmacht. Die Nachahmer, die schon ihre Stifte spitzen, werden sich mächtig täuschen. Die Sensationen Stirlings werden sie nicht haben, geschweige denn bewerkstelligen können. Es gehört dazu die Geistesverfassung eines insgeheim Verzweifelten oder Gelangweilten, dessen bisheriges Werk zur Bereicherung der Architektur des letzten Jahrhundertdrittels so viel beigetragen hat, daß er offenbar nicht mehr weiß, wie er sich selbst noch überholen soll. (...) UC.
0 Kommentare