Bauwelt

Un­­gebaute Möglichkeiten

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

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    Der stolze Entwerfer und Bauherr: Walt Disney präsentiert seine „Experimentelle Prototypstadt“ EPCOT
    Foto: © The Walt Disney Company

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    Foto: © The Walt Disney Company

Un­­gebaute Möglichkeiten

Text: Schultz, Brigitte, Berlin

An manchen Orten ist das Paralleluniversum zum Greifen nah. Zum Beispiel in einer unscheinbaren Gegend in Berlin-Tempelhof. Erklimmt man die Aussichtsplattform, die dort am sogenannten „Schwerbelastungskörper“ steht, schweift der Blick über ein ganz normales Stück Stadt. Doch die Sichtachse, die sich aus knapp 16 Metern Höhe bietet, ist mehr als eine nette Aussicht. Sie zeichnet eine imaginäre Linie, entlang derer Hitlers „Welthauptstadt Germania“ entstanden wäre. Alles unter diesen 16 Metern wäre der neuen Nord-Süd-Achse zum Opfer gefallen. Das Projekt war so weit gediehen, dass Speer mit einem über 12.000 Tonnen schweren Betonklotz prüfen ließ, ob der Baugrund die „Schwerbelastung“ eines 170 Meter breiten Triumphbogens tragen würde.
Was wäre, wenn diese Stadt gebaut worden wäre? Bei Hitlers Visionen möchte man sich das lieber nicht so genau vorstellen. Doch in der einen oder anderen Form ist „Was wäre, wenn?“ eine Kernfrage unserer Profession, in der täglich alternative Lebenswirklichkeiten erdacht werden. Acht davon, die um ein Haar Realität für Millionen Menschen geworden wären, haben wir in diesem Heft versammelt. Wie durch ein Brennglas betrachtet, zeigen sich in den Geschichten dieser ungebauten Städte die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Herausforderungen des Planeralltags, werden wirtschaftliche, politische und persönliche Zusammenhänge aufgedeckt, die sonst, ist erst einmal alles gebaut, oft im Dunkeln bleiben.
Am Anfang ist der Enthusiasmus immer groß. Eines der spektakulärsten Stadtfragmente weltweit ist das Ergebnis eines großen Plans vom endlosen Wachstum. Die Stadt California City sollte das nahe Los Angeles in den Schatten stellen. Ihr Masterplan ist noch heute, über ein halbes Jahrhundert später, als leeres Straßennetz in den Sand der Mojave-Wüste gezeichnet. Während des letzten Immobilienbooms der Nullerjahre hätten die Stadtverwalter der angrenzenden Bundesstaaten besser einen Ausflug dorthin machen sollen. Nun sind ihre zigtausenden implodierten Projekte in verschiedensten Ausbaustadien über riesige Gebiete verstreut. Sie ergeben die kompliziertesten Puzzles, die die amerikanische Stadtplanung derzeit zu lösen hat.
Doch nicht nur die Illusion vom endlosen Wachstum bleibt erschreckend aktuell. In diesem wie im letzten Jahrhundert wird an den selben Problemen gearbeitet. Wie beteiligt man die Bürger am besten? Wie ökologisch kann eine Stadt sein? Die neue Hauptstadt Alaskas hatte Ende der Siebziger aussichtsreiche Antworten darauf zu bieten. Es gibt zu denken, dass ihr vorbildlicher Beteiligungsprozess genauso am Ziel vorbeiführte, wie der autoritäre Ansatz zweier finanzstarker Mäzene, Walt Disney und Hermann Bahlsen, die sich beide als Stadtplaner versuchten. Während die ägyptisierte Fabrikstadt des Hannoveraner Keksfabrikanten mit den Vorstellungen der Arbeiter kollidierte, wurden diese in der schönen neuen Welt von Disney erst gar nicht angehört. In Zeiten neoliberaler Doktrin wirkt seine „Stadt von morgen“ wie eine düstere Vorschau auf ein Morgen, das auch uns einmal erwarten könnte.
Eine hoffnungsvollere Vorstellung ist die der autofreien Stadt, die sich durch viele Stadtentwürfe, von den Siebzigern bis zu den Eco-Cities von heute, zieht. Auf ein funktionierendes Beispiel dafür warten wir noch. Aber manchmal dauert es auch einfach ein wenig länger. An Arcosanti, der Öko-Stadt Paolo Soleris, wird schließlich seit nun fast fünfzig Jahren gebaut.

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