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Lesezeichen Salbke

Text: Thein, Florian, Berlin

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Foto: Journalistenbüro City-PRESS Magdeburg

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Lesezeichen Salbke

Text: Thein, Florian, Berlin

Als Intervention im öffentlichen Raum gestartet und mit lokalen Akteuren entwickelt, galt das Lesezeichen Salbke als ein Musterbeispiel für gelungene Stadtentwicklung. Jetzt ist die Freiluftbibliothek im Süden Magdeburgs zum Treffpunkt für Randalierer geworden.
Das mehrfach prämierte Projekt von Karo Architekten steht vor der Zerreißprobe. Die Geschehnisse haben eine Diskussion um ordnungspolitische Maßnahmen und Möglichkeiten der Kontrolle, aber auch um Planbarkeit von Aneignung und Grenzen sozialer Gestaltung losgetreten. 

Wie eine selbsterfüllende Prophezeihung liest sich die Andeutung in der Bauwelt zur Eröffnung der Freiluftbibliothek von Karo Architekten im Magdeburger Stadtteil Salbke 2009 (Bauwelt 38.09): „Dass über Vandalismus, Bücherklau oder Unfälle geunkt wird, wundert nicht. Aber – ‚wir vertrauen auf die Menschen‘, sagt ein Mitglied des Bürgervereins.“
Knappe zwei Jahre später treffen sich am Lesezeichen jedes Wochenende 30 bis 40 Jugendliche zum „Vorglühen“ vor dem Diskobesuch. Die mit Alkohol- und Drogen einher­gehenden Pöbeleien und Vandalismus hindern Interessierte, die Bibliothek zu benutzen. Der betreuende Bürgerverein und Karo Architekten haben sich nun in einem offenen Brief an den Magdeburger Oberbürgermeister Lutz Trümper gewandt. Sie rufen die Stadt als Eigentümerin zur „Wiederherstellung der Ordnung“ auf. Gleichzeitig baten Karo unter anderen Ar­­chi­­tekten, Stadtplaner und Stadtentwickler um Stellungnah­­me. Wir haben einige Beiträge, in Ausschnitten, zusammengestellt.
 
Es wird höchste Zeit, dass jemand in Sachsen-Anhalt diese Jugendlichen ernst nimmt, ihnen zuhört, auf ihre Wünsche und Interessen clever eingeht. Es wird jetzt zu viel Nettes und Korrek­tes angeboten, als ob wir am Anfang der Aufklärung stehen. So ist es nicht. Nur erziehen, belehren und kontrollieren wird da nicht helfen und das Gegenteil bewirken. Dann werden sie de­finitiv zu Ausgeschlossenen – zu Ausgeschlossenen, die eine erhebliche destruktive Macht generieren können.
Bart Lootsma | Professor für Architektur­theorie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Letztlich ist auch ein Bürgermeister überfordert, den soziopolitischen Verwerfungen zu begegnen – da helfen weder Sicherheitsdienst noch aufräumen, noch Polizei. Es ist das Drama von Präsenz, dass sie Projektionsfläche für Unbehagen, Wut, Enttäu­schung wird. Die Frage ist, wie man mit dieser Form von Wi­derständigkeit umgeht. Eine Selbst-Musealisierung ist meines Erachtens nicht der richtige Weg.

Friedrich von Borries | Projektbüro Friedrich von Borries, Berlin; Professor für Design­theorie HFBK Hamburg

Da man hier sieht, wie die engagierten Bürger versuchen, das Projekt zu beschützen, ist es aus meiner Sicht unabdingbar, dass die Stadt helfen sollte.

Oliver Langbein | OSA, Vorsitzender Darm­städter Architektursommer e.V.

Schwerwiegender als die Kolonisierung eines Ortes durch eine wütende Nutzergruppe, scheint mir die Kolonisierung der Diskussion über öffentlichen Raum durch skeptische Entscheidungs­träger, die Vandalismus so oft als Argument wider die Möglichkeit öffentlichen Raums per se anführen.
Mark Lemanski | muf architecture/art LLP, London

Diese Entwicklung ist ja für den Osten Deutschlands insgesamt signifikant. Es ist schwer, keine Frage, aber es lohnt sich bestimmt, mit den Beteiligten in einen längeren Prozess der Auseinander­setzung hineinzugehen. Und dazu braucht man professionelle Unterstützung auf vielen Ebenen, die sich auch an die Jugendlichen richtet. Die Bundeszentrale für politische Bildung wäre eventuell ein Partner.
Barbara Steiner | Direktorin Galerie für Zeit­genössische Kunst, Leipzig

Wenn Ihr bei dem Bibliotheksprojekt von öffentlichen Räumen sprecht, die sich durch engagierte Bürger herausgebildet haben, die dann aber aufgrund von offensichtlichen Konflikten einen privaten Sicherheitsdienst zur ersatzweisen Durch­setzung von „Recht und Ordnung“ einsetzen, dann lauft Ihr – trotz der verständlicherweise präsenten Wut über die Zerstörung und die massive „negative Aneignung“ durch eine Nutzergruppe Ge­fahr, Euren eigenen Ansatz zu untergraben.
Sabine Knierbein | Interdisciplinary Centre for „Urban Culture and Public Space“ (SKuOR), TU Wien

Ihr Rundruf hat eine Debatte (über das Verhältnis baulicher Projekte zu sozialen Realitäten) ausgelöst, die ich sehr wichtig finde und die mich zugleich an den Satz eines älteren Kollegen erinnert: „Vandalismus ist eine Form, mit dem Wohnungsunternehmen oder der Gesellschaft zu reden.“ Es wird deutlich, wie drängend die Auseinandersetzung mit diesen „Kommunikationsstörungen“ in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft sein kann.
Klaus Selle | Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung, RWTH Aachen
 
Mich empören im Zusammenhang mit dem Lesezeichen in Salbke alle melancholischen Meditationen über die Sinnlosigkeit archi­tektonischer Bemühungen. Die erste Frage ist doch, wie sich eine Stadtverwaltung dafür rechtfertigen will, dass sie nicht in der Lage ist, ein konkretes zivilgesellschaftliches Angebot vor Bedrohungen zu schützen, wenn sie zuvor doch durchaus in der Lage war, die Shopping-Malls und Boutiquen-Höfe der Innenstadt für jene Jugendlichen zur No-Go-Zone zu machen?
Markus Grob | Professor für Architektur, HfG Karlsruhe

Diese „feindliche“ Aneignung verweist auf Aspekte, die in den von uns selbst wohl etwas naiv glorifizierten Nachbarschaftsprojek­-ten vernachlässigt oder auch verdrängt wurden. Sie zeigt zuallererst die Grenzen unserer „sozialen“ Gestaltungskapazitäten auf. Sie erinnert auch an den zeitlichen Aspekt von veränderten Aneignungen und Gegenaneignungen sowie daran, dass die Gestaltung von unterschiedlichen sozialen Gruppen völlig unterschiedlich gelesen werden und ebenso unterschiedliches Verhal­ten evozieren kann. Wir sollten daher unsere Selbstreflexion erweitern und vehement auf die sozialpolitischen Defizite hinweisen, die die Her­ausbildung dieser Subkulturen fördern.
Michael Zinganel | Architekt/Kulturwissenschaftler, Wien

Das Projekt hat durch diese Diskussion sehr viel an Wert gewonnen und ist durch die Kollision von Träumen und Lebensweisen ein noch wertvollerer Versuch geworden. Das Ganze wirft Fra­gen auf, wie: Ist es nicht viel besser einen dieser Vandalen zum Lesen zu bringen, als dass sich eine Leseratte das hundertste Buch ausleiht? Vielleicht waren diese Randalierer noch nie so nah an einem Buch wie in diesem Projekt? Das Potenzial ist enorm. Anscheinend hat der Platz für eine Vielzahl von Nutzergruppen Qualitäten, ist also multifunktional. Ich meine das sehr ernst und auf keinen Fall zynisch. Das Projekt bietet durch die neue Situa­tion viel Stoff für eine fundierte Fachdiskussion.

Theo Deutinger | TD Architects, Rotterdam

Entweder, Stadt und Akteure schaffen es jetzt wieder, den Ort „seiner Bestimmung gemäß“ zu belegen, oder das Lesezeichen durchlebt gerade seine erste echte Transformation, wie der ganze Südosten von Magdeburg. Ich bin dafür, den Vorgang/das Ex­periment in seinem Wandel der Aneignung zu akzeptieren und zu reflektieren. Vielleicht ist Salbke-Downtown noch immer nicht reif für szeneviertelverdächtige Aneignungen wie Poetry Slams, Open-Air-Proben oder einfach Lesestündchen. Also, volle Unterstützung für die Stadt auf Probe! Das Lesezeichen stellt einen Prozess lesbar dar und ist hilfreich in vielerlei Hinsicht.
Gregor Schneider | Stadtplaner Tübingen/ Magdeburg

Wenn im besten Fall Architektur das Ordnen von sozialen Beziehungen durch Gebautes ist (und dieses Ordnen nun nicht mehr gelingen mag), betrifft Bart Lootsmas Einwurf nicht nur die Frage der Programmierung usw., sondern schlimmer noch, das Selbstverständnis von Gebautem ... ist also eine harsche Architektur­kritik...
Arno Brandlhuber | Brandlhuber+, Berlin; Professor am Lehrstuhl für Architektur und Stadtforschung, ADBK Nürnberg

Vielleicht sollten alle Unterstützer mehr als ihre Unterschrift leisten und versuchen, in nächster Zeit in Magdeburg ein Buch zu lesen! Allerdings ohne die Bibliothek zu einem Wallfahrtsort der Kultur im wilden Osten zu machen.
Matthias Böttger | Kurator Deutsches Architekturzentrum Berlin

Die aktuelle Entwicklung in Salbke offenbart weitere Schwierigkeiten für den Fortbestand des Lesezeichens. Um die Bücher hat sich bislang die, ebenfalls vom Bür­ger­verein betreute, informelle Bürgerbücherei auf der gegenüberliegenden Straßenseite gekümmert. Deren Räume stellte die Wohnungsbaugesellschaft Wobau zur Verfügung, gezahlt werden mussten lediglich die Betriebskosten. Jetzt wurde die Immobilie verkauft, der neue Besitzer hat dem Bürgerverein gekündigt. Durch Spenden und freiwillige Arbeit ist der Bibliotheksbestand bisher auf rund 40.000 Bücher angewachsen. Wo sie künftig unterkommen, ist unklar.
Fakten
Architekten Karo Architekten, Leipzig
aus Bauwelt 30.2011
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