Zwanzig Jahre Mauernachbau
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
Zwanzig Jahre Mauernachbau
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
In dichtem Takt durchlaufen Schulklassen aus aller Welt das neu gestaltete Denkmal-Areal an der Bernauer Straße in Berlin. Was bekommen sie dort zu sehen und was nicht? Ein polemischer Streifzug durch einen mehrfach umgekrempelten Stadtraum.
Im Jahr 1973 veröffentlichte Walter Kempowski sein Befragungsbuch „Haben Sie Hitler gesehen?“. Der Schriftsteller hatte fünfhundert Zeitgenossen diese einfache Frage gestellt. Ihre Antworten montierte er zu einem Kaleidoskop persönlicher Erinnerungen, mit dem er das vielschichtige Verhältnis der Augenzeugen zum Objekt in den Mittelpunkt rückte.
Die Frage der Perspektive
„Haben Sie die Mauer gesehen?“ Ja, würde ich antworten, zum ersten Mal 1987. Abschlussfahrt nach Berlin (West), subventioniert vom Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, ein Vormittag mit politischer Bildung war Pflicht, der Tagesbesuch in Ost-Berlin empfohlen. Im selben Augenblick, als wir aus dem damaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße heraustraten, verlor ein Trabant bei Vollgas seinen Auspuff. Musste man noch mehr vom Osten sehen? Die Betonwand auf der Westseite jedenfalls passte bestens zu einer Großstadt. Daheim im Zonenrandgebiet gab es Streckmetall. Irgendwo dahinter gelegentliche Detonationen, die, so behaupteten die Erwachsenen, dadurch entstünden, dass Kaninchen über Minen hoppelten. Ich wusste früh Bescheid, aber der Mensch gewöhnt sich. Als die Grenze abgetragen wurde, jubelte ich nicht, sondern staunte. Falls ich je ein Dokumentationszentrum zur innerdeutschen Grenze betreiben sollte, erhielte auch diese Sichtweise ihren Raum.
Mehr Lärm seit 1990
Grund zu feiern hatten nach 1989 die Verkehrsplaner. Eine Unmenge Straßen war schleunigst zu verknüpfen, ohne Diskussion, Hand in Hand mit Tiefbauamt, Straßenbaufirmen und mit dem automobilen „Volk“ im Rücken. So bauten sie auch die morbid-beschauliche Sackgasse Bernauer Straße zu einer vierspurigen Ringstraße aus, heute eine brüllende Schneise, die die beiden Straßenseiten, ehemals in Ost und West gelegen, mehr zerteilt als verbindet – immerhin ohne Schießbefehl. Was in der Verkehrsplanung seit 1990 selbstverständlich ist, fehlt beim Umgang mit den Grenzanlagen bis heute: die übergeordnete Idee. So ist das einstige Staatsbauwerk in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur materiell, sondern auch gedanklich zerkleinert und privatisiert worden. Was heute noch von ihm zu sehen ist, verdankt seine Existenz dem Engagement von Privatpersonen, die sich um den Erhalt von Abfertigungsbaracken, Wachtürmen oder Sperranlagen bemühen und je nach politischem Geschick für diese Arbeit öffentliche Gelder erhalten. Die Gremien und Beiräte sind mit Personen besetzt, die ihr berufliches Fortkommen den Umwälzungen von 1989 verdanken. Bundesweit sind seither Dutzende Grenzmuseen entstanden, dilettantische genauso wie professionelle, die zwar jeweils lokale Besonderheiten der Grenze und ihrer Geschichte thematisieren, sich jedoch in ihren Aussagen wenig unterscheiden und dadurch austauschbar, ja oft sogar verzichtbar erscheinen. Wie könnte es anders sein? Für Initiativen dieser Art ist ein Mindestmaß an persönlicher Verletzung unter den Mitwirkenden erforderlich. Die Stimmen der Opfer ertönen oft lauter als nötig, und wer vor 1989 für die Instandhaltung der Grenzanlagen verantwortlich war, kommt selten zu Wort. Menschlich verständlich, aber nicht unbedingt der Aufklärung dienlich. Wer wagt es schon, die innere Logik der DDR-Grenze zu erklären, ohne dabei mahnend den Finger zu heben? Die es könnten, bleiben, so sie nicht zur DDR-Politprominenz gehörten, in den mir bekannten Grenzmuseen erstaunlich unsichtbar.
Ein Ort kontrollierter Emotion
Nicht viel anders verhält es sich in der „Gedenkstätte Berliner Mauer“ an der Bernauer Straße, nur ist der Anspruch an diesem Ort ein anderer als in der Provinz. Im vergangenen Jahr, zum 20. Jahrestag der Maueröffnung, wurde der erste Bauabschnitt eingeweiht, die gesamte vier Hektar große Anlage soll in zwei Jahren fertiggestellt sein.
Es handelt sich dabei um ein Gegenmodell zum publikumsträchtigen „Mauermuseum – Haus am Checkpoint Charlie“, einem der ersten Privatmuseen, die sich der innerdeutschen Grenze widmeten. Seit seiner Gründung 1963 wächst das Haus an der Friedrichstraße, es dokumentiert Grenzanlagen, sammelt Fluchtrequisiten und bewahrt so auf populäre Weise den Geist des Kalten Krieges. 2004 erzeugte die Leiterin (und Witwe des Gründers Rainer Hildebrandt) durch ein „Freiheitsmahnmal“ politischen Wirbel. Auf einer benachbarten Brachfläche ließ sie 120 originale Mauersegmente nebst 1067 Kreuzen aufstellen, zur Erinnerung an die Opfer des Grenzregimes. Künstlerisch wie historisch fragwürdig, wurde dieses schon bald wieder abgeräumte Event dennoch zum Geburtshelfer der offiziellen „Gedenkstätte Berliner Mauer“, um die sich der Berliner Senat jahrelang gedrückt hatte. Die Landesregierung aus SPD und Linkspartei sah sich durch die Kruzifix-Aktion herausgefordert, das neuerlich hochgekochte Thema „Mauergedenken“ abzukühlen, ohne dabei in Verdacht zu geraten, die Geschichte zu verharmlosen. Eine parteipolitische Gratwanderung, verbunden mit der Einsicht, dass man die anschwellenden Touristenströme nicht länger einer unberechenbaren Institution überlassen darf. Die Bernauer Straße erschien für diese Zwecke als ein idealer Ort, nicht nur wegen der medial dokumentierten „Ereignisdichte“. Ein 212 Meter langes Teilstück des Grenzstreifens steht seit 1990 unter Denkmalschutz, was ihn jedoch nicht vor Verwüstung geschützt hat. Die neue Gedenkstätte basiert auf diesen zufälligen Überresten.
Exkurs: Das Missverständnis von 1994
An der Ecke Ackerstraße hatte die Bundesrepublik Deutschland bereits Jahre zuvor das nationale „Denkmal für die Opfer des Mauerbaus und der deutschen Teilung“ errichtet, initiiert vom Deutschen Historischen Museum, bezahlt vom Bund, unterhalten vom Land Berlin. Der Bau der Stuttgarter Architekten Sven und Claudia Kohlhoff stieß in der Fachwelt auf Unverständnis: ein knapp siebzig Meter langes Originalstück des „Todesstreifens“ zwischen zwei Stahlwänden, die selbst die Mauer noch weit überragen – innen Edelstahl, außen Corten-Stahl. Die Architekten legten Wert auf alterungsbeständige Materialien, die Robustheit mag auch dem Auslober gefallen haben. Sven Kohlhoff erinnert sich an die Stimmung zu Zeiten des Wettbewerbs im Jahr 1994: Viele hätten das „Schandmal Mauer“ gerne vollständig beseitigt, andere zu einer disneyfizierten Rekonstruktion geneigt, sogar von VoPo-Puppen in Wachtürmen sei damals die Rede gewesen. Es sei wohl die – durchaus beabsichtigte – Harmlosigkeit des Denkmals gewesen, die viele Erwartungen enttäuscht habe, sagt der Architekt heute. Schließlich solle und könne es nichts erklären. Von dem erst nachträglich eingefügten Wachturm erfährt Kohlhoff erst jetzt.
Spuren und falsche Fährten
2007 versuchte der Berliner Senat, dieses Missverständnis wenn schon nicht aufzulösen, so doch wenigstens einzubetten. Als Grundlage dienten die inzwischen aufwendig kartierten Überreste der Grenzanlage, das an den Gegebenheiten orientierte Leitbild lautete nun: „Spurensuche“. Fakten statt Inszenierung. Der routinierte Siegerentwurf stammt aus einer Arbeitsgemeinschaft der Büros sinai (Landschaftplanung), Mola Winkelmüller (Architektur) und ON Architektur (Ausstellungskonzept). Das Preisgericht lobte den Einsatz des „Leitmaterials“ Corten-Stahl, das zwischen dem Kohlhoff’schen Denkmal einerseits und den von Souvenirjägern freigelegten Armierungseisen der Originalmauer vermittele. Die Korrosion wird sich künftig noch ausweiten. Laut Konzept sollen beispielsweise historische Wege, so sie irgendwann nicht mehr begehbar sind, durch vorgerostete Stahlplatten ersetzt werden. Die hier und da übrig gebliebenen authentischen Schäfte, Spangen und Muffen aus DDR-Beständen dürften von sich aus in dieses Konzept hineinrosten. Das Problem: Es rostet zusammen, was nicht zusammengehört.
Konfusion der Konzepte
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Genug Verwirrung stiftet aber bereits die Konfrontation von Denkmal und neuer Open-Air-Ausstellung. Wäre das „Kuchenstück“ (Kohlhoff), wie noch Mitte der 1990er Jahre geplant, von Neubauten eingerahmt, hätte es eine fragmentarische Leerstelle markiert. Dem steht das aktuelle Konzept entgegen, das ein „Erkunden“ und „Erwandern“ des nun doch offen liegenden ehemaligen Todesstreifens vorsieht, doch eben das wird durch das Denkmal blockiert. Betreten wir, wie vorgesehen, das Gelände vom westlichen Ende, dient uns der ehemalige Kolonnenweg als Leitfaden. Bis uns die brachiale Corten-Seitenwand des Denkmals den Weg versperrt, passieren wir relativ filigrane, audiovisuell angereicherte Informationsstelen und auch vier archäologische Fenster, in denen Kabel, Asphaltplacken oder Fundamentreste herauspräpariert sind. Hier wird das Missverhältnis zwischen Objekt und Aussagewert wohl am deutlichsten. Oder gibt es bereits „Mauerleugner“, die man an dieser Stelle zurechtweisen könnte? Leider lenkt uns auch das gut gemeinte stählerne „Fenster des Gedenkens“, aus dem uns die Porträts von Todesopfern anblicken, in die Irre. Stehen wir hier auf deren Gräbern, obwohl doch der Rasen an eine Liegewiese erinnert? Was bedeutet uns das akustische Abnudeln von Name, Geburts- und Todestag in Endlosschleife? Und sind das nicht überhaupt die gleichen Bilder wie an den Kreuzen am Checkpoint Charlie?
Wir steuern auf das Dokumentationszentrum auf der anderen Straßenseite zu. Während weiter unten, im neuen Besucherzentrum, Filmloops ablaufen, arbeitet man hier noch mit laminierten Aktenkopien. In Hängeordnern werden Themen wie Grenzsicherung, Fluchttunnel, Mauerbau usw. ausgebreitet. So lässt sich beispielsweise der jahrelange Briefverkehr zwischen Kirchenleitung und Behörden nachvollziehen, der der vermeintlich willkürlichen Sprengung der Versöhnungskirche 1985 vorausging – ein Verwaltungsakt, in dem offenbar alles seine Ordnung hatte. Zu nüchtern, zu kompliziert, zu wenig griffig für Schulklassen auf Durchmarsch?
„Haben Sie die Mauer gesehen?“ Zwei Jubiläen sind noch zu absolvieren: der 50. Jahrestag des Mauerbaus 2011 und der 25. Jahrestag der Maueröffnung 2014. Erst danach werden neue Ideen gefragt sein.
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