Geschichten vom Scheitern
Bleak Houses
Text: Hilbig, Henrik, Dresden
Geschichten vom Scheitern
Bleak Houses
Text: Hilbig, Henrik, Dresden
Welcher Architekt kennt nicht große und kleine Enttäuschungen oder das Gefühl, gescheitert zu sein? Der zweite Platz in einem Wettbewerb, wenn überhaupt; eine Bauherrschaft, der die Kosten wichtiger sind als die Gestaltung; das Erleben des verstümmelnden Umbaus eines Jugendwerks oder gar dessen Abbruch. Und doch zeigen unsere Architekturzeitschriften (fast) nur Siegerprojekte, bildet die normale Architekturgeschichte eine Reihe von folgerichtigen Entwicklungsschritten weniger Heroen, sieht man von einigen „So nicht!“-Beispielen ab.
Timothy Brittain-Catlins „Bleak Houses“ kehrt die Perspektive um. Die Studie ist auf den ersten Blick eine vielfältige Abfolge von Enttäuschungen und Momenten des Scheiterns von Architekten vor allem in den Jahren ab Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei sind die von mir eingangs erwähnten Beispiele noch harmlos im Vergleich mit den skizzierten Schicksalen der Opfer von „Mobbing“ innerhalb der Architektenkreise bis hin zu der staatlichen Verfolgung der deutschen jüdischen Architekten nach 1933.
Das Buch kann nun zur Ernüchterung für hoffnungsfrohe Architekturstudenten eingesetzt werden oder dazu dienen, die eigenen Enttäuschungen im Vergleich etwas zu mindern. Aber damit würde man an der eigentlichen Stoßrichtung vorbeizielen. Denn Brittain-Catlin weist mit seinen Beispielen auf einen ziemlich wichtigen und meines Erachtens vielfach noch nicht in ganzer Tiefe wahrgenommenen Punkt hin: das Verhältnis zwischen der formalen Gestalt eines Baus und dem Sprechen darüber. Erst das Sprechen über Bauten führt diese von ihrem Hintergrunddasein in der alltäglichen Lebensbewältigung der „normalen“ Architekturnutzer hin zu einem bewussten Umgang. Und bei aller Wichtigkeit von Skizze, Beispielbildern und Modellen ist es die Diskussion im Architekturbüro und innerhalb der Fachmedien, die den Prozess der Architekturentstehung befeuert und ihm die Richtung gibt.
Für Brittain-Catlin hat allerdings gerade die neuzeitliche Architekturkritik mit ihrer Verbindung von ästhetischen und moralischen Aspekten, ihren „richtigen“ oder „falschen“, „guten“ oder „schlechten“ Formen, den Blick weggelenkt von den eigentlichen formalen Qualitäten von Bauwerken, Innenraumgestaltungen oder städtebaulichen Planungen und deren Rolle im Leben ihrer Bewohner. Sein Gegenentwurf ist eine Baugeschichte, die versucht, die Hoffnungen und Wünsche, die der Architekt mit seinem Bau verband, die Atmosphäre, die er sich von dem fertigen Bau erhoffte, zu rekonstruieren, und damit über die „Geschichte(n)“ einen anderen Zugang zu einem baulichen Artefakt ermöglicht. Ich möchte ergänzen, dass eine zeitgemäße Baugeschichte auch die Geschichten der Bewohner eines Bauwerks, ihre Sicht, ihre Empfindungen einbeziehen sollte.
Aber nicht nur angesichts dieses Ansatzes und der sich daraus ergebenden, auch für den deutschen Sprachraum relevanten Fragen ist „Bleak Houses“ zu empfehlen. Es ist gleichzeitig und trotz der vielen unbekannten „Architekten-Loser“ aus dem angelsächsischen Raum (aber wer kennt zum Beispiel heute noch den Düsseldorfer Max Benirschke) eine gut lesbare, bildende, teilweise witzige und oft spannende Lektüre. Und es ist eine ehrliche Selbstbefragung und Selbstoffenbarung des Autors in seiner Rolle als praktizierender, zweifelnder, auch scheiternder Architekt.
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