Bauwelt

Marcel Gautherot

Breiten Raum in diesem Fotobuch nimmt der Aufbau der neuen Hauptstadt Brasilia ein.

Text: Confurius, Gerrit, Berlin

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Marcel Gautherot

Breiten Raum in diesem Fotobuch nimmt der Aufbau der neuen Hauptstadt Brasilia ein.

Text: Confurius, Gerrit, Berlin

Marcel Gautherot hatte mit Architektur und Ethnologie seine Themen schon gewählt, bevor es ihn nach einem Umweg über Mexiko nach Brasilien verschlug. Formale Klarheit und monumentale Inszenierung, Eigenschaften, die er bereits vorher entwickelt hatte, sollten hier eine glückliche Einheit mit dem Thema eingehen: das sich damals gerade neu erfindende Brasilien. Die Fotos sind eine Erinnerung an einen Traum, zu einer Zeit, als man es für möglich hielt, dass er Wirklichkeit werden könnte.
Die Fortschritts-Verheißungen der Avantgarde sollten mit den volkstümlichen Traditionen und den Zeugnissen der kolonialen Vergangenheit amalgamiert werden zu etwas ganz Eigenem, das dazu geeignet wäre, dass sich die Menschen mit ihm identifizieren und eine nationale Identität gewinnen. Die Architektur war Teil des Projektes zur Erschaffung der Brasilanità.
Dieses Vorhaben hat eine lange Vorlaufzeit und geht bis in die 20er Jahre zurück. Die Semana de Arte Moderna, ein Festival moderner Kunst, das 1922 in São Paulo abgehalten wurde, hatte den Fokus auf den spezifischen Kolonialbarock in Minas Gerais Minas gelegt, den Barroco Mineiro, der sich, wie man fand, positiv vom europä­ischen durch Schlichtheit, Regelmäßigkeit und Kühlheit unterschied. Im Ästhetik-Diskurs der 1930er Jahre befand man über die Moderne als etwas dem brasilianischen Charakter Fremdes, das es erst anzuverwandeln galt. Die sich ausprobierende neue brasilianische Identität sollte der Avantgarde etwas entgegensetzen. Lucio Costa spielte eine führende Rolle bei dem Versuch, den Barroco Mineiro als das kostbarste Erbe zu feiern und als architektonischen Ursprungsmythos zu etablieren. Er war es, der im Sinne ­eines Verschmelzens beider Einflüsse, der klassischen Moderne und des kolonialen Barock, zu etwas Neuem, dem brasilianischen Modern-Style, die Kultur der Jesuiten als die Antike Brasiliens bezeichnete.
Das propagierte Vermengen der barocken Tradition mit modernistischen Ideen materialisierte sich erstmals 1940 in Gestalt des Ouro-Preto-Hotels von Oscar Niemeyers, zwei Jahre bevor Pampulha der stilistische Eckpfosten für den ästhetisch-ideologischen Überbau wurde. Der barocke Einfluss ist allgegenwärtig in irregulären Formen, speziell in Dächern und Vordächern, in dem aus kostbaren Materialien hergestellten Mobiliar und den Azulejo-Kacheln. Die modernistischen Elemente folgen Le Corbusiers fünf Punkten. Niemeyer verstand es, eine neue Architektursprache zu kreieren, die den von tonangebenden Kunsthistorikern konstatierten Kernmerkmale der brasilianischen Kunst entsprachen: Intimität, Sinnlichkeit und Kühnheit.
Die Fähigkeit, sich das Fremde einzuverleiben und es zugleich zu verwandeln, postulierte Oswald de Andrade 1928 in seinem „Anthropophagischen Manifest“ als Wesensmerkmal der ­brasilianischen Kultur. Wie sich der Kannibale die Kräfte und den Mut des Feindes buchstäblich einzuverleiben suche, könne Brasilien die kulturelle Abhängigkeit und damit die postkoloniale Machtkonstellation überwinden, indem es das Fremde verschlinge und verinnerliche. Die Anthropophagie steht dabei als Metapher für ungehemmten Synkretismus und selbstbewusste Aneignung des Wesensfremden.
Breiten Raum in diesem Fotobuch nimmt der Aufbau der neuen Hauptstadt Brasilia ein. Im kargen Nirgendwo des Sertão sollte nicht nur eine Stadt gebaut werden, sondern wollte sich Brasilien neu erfinden. 1956 entschied sich eine Jury für Costas Masterplan‚ ein Kreuz in Form eines Flugzeugs. Die Flugzeug-Chiffre wie auch der Standort sollten auch symbolisieren, dass das arme und vernachlässigte Hinterland dazugehörte. Sie stand für die Propagierung einer neuen brasilianischen Einheit, in der das indianische Erbe und das „authentische, unverfälschte, natürliche“ arme Inland gestärkt werden sollten, um die Macht der europäisch dominierten Küstenstädte zu brechen. Somit ist die Gründung Brasilias als Vollendung des Prozesses zur Überwindung der kolonialen Vergangenheit des ­Landes gedacht, als geografische und demografische Mitte. Bereits nach der Gründung der ­Republik Brasilien und der Erklärung der Unabhängigkeit von Portugal 1889 wurde dieser Vorschlag in der neuen Verfassung (1891) festgeschrieben und gesetzlich verankert. Brasilia war der Idee nach von Beginn an eine Frontstadt, mit dem entsprechenden Pathos.
1960 wurde die Stadt mit großem Pomp eingeweiht. Die Fotografie hält nicht nur das Datum fest, sie war Bestandteil des Projektes. Die Bauarbeiten wurden von Anfang an medial begleitet. Beatriz Colominas Bewertung des Modernismus als Medienkampagne und hochgradig verwoben mit der Entwicklung der Massenmedien folgend, ging es hier um die Verbreitung der Brasilianität: „Ein brasilianischer Blick auf die Avantgarde suggeriert, dass moderne Architektur ‚modern’ nicht einfach durch die Verwendung von Glas, Stahl oder armiertem Beton wird, wie man ­ge­- meinhin annimmt, sondern erst durch das Sich-Verbünden mit den neuen Massenmedien: ­Foto­- grafie, Film, Werbung, Publikationen etc.“ (Colomina, Privacy and Publicity. MIT Press, 1996, 73)
Die technisch exzellenten Fotos erzählen von der naiven und hybriden Überzeugung der Moderne, alles richtig machen zu können, wissen zu können, wie es richtig ist. Sie suggerieren die Heilbarkeit der Diskrepanz zwischen Arm und Reich und die konfliktfreie Vereinbarkeit von Tradition und indigenen Riten auf der einen und der Moderne und dem Fortschrittsoptimismus auf der anderen Seite und teilen und prägen die Überzeugung der Elite einer Generation im Aufbruch. Als Schemen im Dunst, gerade eben oder kaum fertiggestellt, sauber und unbeschädigt, makellos, erzählen die abgebildeten Bauten von einer auf magische Weise sich materialisierenden Utopie. Die Menschen gruppieren sich zu geordneten Gruppen, von einem gemeinsamen Ziel beseelt und von wundersamem Einvernehmen gezähmt. Sogar die Bilder von den ärmlichen Behausungen im Umland von Brasilia, bestehend aus auf Holzrahmen gespannten leeren Zementsäcken, präsentieren sich mit den monumen­talen entstehenden Neubauten auf versöhnliche Weise. Mit der Tiefenschärfe der 6x6 Rolleiflex und im tiefen warmen Schwarz und der Offset-Drucktechnik werden alle denkbaren Konflikte nichtig.
Das Buch führt durch die Erinnerung an die einstige Aufbruchsemphase ein unbegreifliches Paradox vor Augen: Die zunehmende Fragmentierung, Segregation und Auflösung der Stadt steht im Widerspruch zur außergewöhnlichen Fähigkeit der brasilianischen Bevölkerung, sich kollektiv zu organisieren und mit unterschied­lichen kulturellen Einflüssen spielerisch umzu­gehen. Zu Beginn der brasilianischen Moderne träumte die Avantgarde von einer fortschritt­lichen, multi-ethnischen Gesellschaft, die in der Lage sei, die Konflikte zu beherrschen und sich das Fremde einzuverleiben und es produktiv zu synthetisieren. Beim Anblick der heutigen Metropolen löst sich diese Utopie im entmutigenden Flimmern der unüberschaubaren Gebäudemassen auf.
Kritik wurde freilich auch damals schon laut. Sie richtete sich vor allem gegen die monumentale Ästhetik. Die Schwierigkeiten des Aufbaus einer Kunststadt im Nirgendwo waren unübersehbar. Selbst auf den schönenden Fotografien springen sie ins Auge. Es gibt hier keine gewachsene, lokal verwurzelte Gesellschaft: Wer hier landet, ist vereinzelt. Auf den Fotos sieht man nur Individuen, die zwischen Autos herumlaufen. Die Stadt scheint so unfertig, dass der Betrachter sich kaum vorstellen kann, wie ein Land von der Größe Brasiliens von hier aus regiert werden soll. Man sieht, dass man sich ideologisch Mut machen musste. Die Auftraggeber verlangten nach einem „monumentalen Plan“, „Brasilia sollte primär ein Monument“ sein. Und die Architekten machten sich diesen Auftrag ebenso zu eigen wie die Fotografen.
Costa bestand darauf, dass es nie beabsichtigt war, mit Brasilia ein Beispiel zu geben für andere Städte. Es sei ein einmaliges Unternehmen. Und es sei zwar wahr, dass Brasilia keine Straßen in traditionellen Sinn habe, aber dafür durchgängig schattige Zonen unterhalb der Pilotis, die dem Alltagsleben hier eher förderlich seien. Die Kritiker hätten seltsamerweise versäumt, ihr Augenmerk auf diese alternativen Interaktionsräume zu legen, wo sie doch so viel Wert legten auf die Freiheit des Alltagslebens. Costa beschrieb den freien Raum zu ebener Erde als etwas, das den Menschen erlaube, „durch den Blick zu gehen“, sich durch die Räume bewegen zu können, die von ihrem Blick gerahmt sind. Der Boden und die Decken der freien Bodenebene täten eben dies: Sie rahmen den Blick auf die umgebende Gartenlandschaft in schmale horizontale Streifen, die man durchqueren kann.
Wir haben uns daran gewöhnt, die offenen Räume um die Superquadra herum wie auf den berühmten Schwarz-weiß-Fotografien Marcel Gautherot zu sehen, die sowohl während der Bauarbeiten als auch nach der Fertigstellung der ersten von ihnen aufgenommen wurden. In diesen Bildern sind die Landschaften aufgeräumt, die Rasenflächen manikürt, die Gebäude sauber glänzend, geradezu glühend. Die Menschen haben körperlich ihre Wohnungen bezogen, scheinen sie aber noch nicht wirklich in Besitz genommen zu haben. Autos stehen schon in den Einfahrten, aber es scheint niemand zu Hause zu sein. Brasilia wirkt wie eine Geisterstadt.
Fakten

Verlag Instituto Moreira Salles, Sao Paolo und Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016
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aus Bauwelt 40.2016
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