Städtebau der Normalität
Der Wiederaufbau urbaner Stadtquartiere im Ruhrgebiet
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Städtebau der Normalität
Der Wiederaufbau urbaner Stadtquartiere im Ruhrgebiet
Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin
Ein schönes Buch, auf den ersten Blick, zu einem ungewöhnlichen und mithin die Neugierde weckenden Thema. Die Veröffentlichung von Wolfgang Sonne und Regina Wittmann von der TU Dortmund und dem dort von Christoph Mäckler gegründeten „Institut für Stadtbaukunst“ widmet sich dem „Wiederaufbau urbaner Stadtquartiere im Ruhrgebiet“. Mit der Paarung der Wörte „urban“ und „Ruhrgebiet“ scheinen zwei gegensätzliche Kategorien des Lebens zusammengespannt – wer das Revier vielleicht nur vom Durchfahren auf einer der unzähligen Autobahnen oder von Einzelobjekten wie der Zeche Zollverein, der Ruhr-Universität Bochum oder dem CentrO Oberhausen her kennt, wird es jedenfalls kaum mit dem heute so oft beschworenen Lebensgefühl der „Urbanität“ in Verbindung bringen. Dabei gibt es die im Untertitel von Sonnes Buch angesprochenen Quartiere tatsächlich, sogar ziemlich häufig – meist am Rand der Stadtkerne von Duisburg, Essen, Bochum oder Dortmund; ganz unspektakuläre Quartiere, die, in der Regel viergeschossig und geschlossen bebaut, auf ausgesprochen beiläufige Art all das zusammenbringen, was es in einer gemischten, sprich urbanen Stadt braucht: Wohnen, Geschäfte, kleinere Gewerbebetriebe, Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen, Sport- und Erholungsflächen, Vergnügungsstätten, öffentlichen und privaten, ruhenden und fließenden Verkehr, dazu eine meist anonyme, gelegentlich auch ambitionierte, im Großen und Ganzen aber eher bescheidene Architektur aus Gründerzeit, 20er, vor allem aber 50er Jahren: der Zeit des großen Wiederaufbaus.
Wie Wolfgang Sonne einleitend darlegt, sind diese Quartiere, und das ist die erste Überraschung der Lektüre, aber nicht, wie der Betrachter vielleicht annimmt, Produkte von bloßem Pragmatismus, die nur der Not geschuldet nicht den Idealen der damaligen Avantgarde, der „gegliederten und aufgelockerten“ Stadt folgen, sondern vor dem Hintergrund eines klar umrissenen und intellektuell reflektierten Leitbilds entstanden: und zwar der Vorstellung Philipp Rappaports von der dichten, gemischten Stadt. Wer sich nun fragt, wer bitteschön Philipp Rappaport war, wird in Sonnes Einleitung belehrt: Rappaport (1879–1955), diplomiert 1904 an der TH Charlottenburg, war von 1920 bis 1933 und dann wieder ab 1945 bis 1951 Verbandsvorsitzender des Siedlungsverbands Ruhrgebiet und in dieser Funktion maßgeblich für die Leitlinien des Wiederaufbaus im Revier in den ersten Nachkriegsjahren verantwortlich.
Ein bisschen irritierend und mithin die zweite Überraschung ist dann allerdings die Lektüre der „Fallbeispiele“: Zehn innerstädtische Quartiere zwischen Duisburg und Dortmund werden von sieben Autoren auf ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht, mit detaillierten, parzellenscharfen Angaben zu den Bauherren einzelner, architektonisch meist nicht sonderlich origineller Bauten und ihrer wenig prominenten Planer, Daten zu Baueingaben und -genehmigungen, Ratsbeschlüssen und Planbekanntmachungen präzise in der jeweiligen Stadtgesellschaft verortet, mit Fußnoten belegt, allerdings nicht immer auch anhand des (durchaus opulent beigefügten) Bildmaterials nachvollziehbar illustriert. Das von Sonne eingangs so euphorisch behauptete Leitbild Rappaports allerdings wird kaum jemals deutlich, schon sein Name fällt kaum noch mal, und wenn doch, wie etwa im Kapitel zu Mühlheim, weckt die Anfang der 50er Jahre vorgenommene Ausweisung des kleinen gründerzeitlichen Dichterviertels als reines Wohngebiet mit dreigeschossiger offener Bauweise, also der offizielle Abschied vom konventionellen Städtebau, Zweifel daran, dass der SVR-Direktor seine Ideale über die Zeit nach seinem Ausscheiden aus dem Amt hinaus verankern konnte. In manchen Fällen räumen die Autoren der Fallbeispiele die eingangs formulierte These sogar ausdrücklich wieder ab. So schreibt Gudrun Escher über den Wiederaufbau in der Duisburger Altstadt: „Auf der einen Seite wurde die Verkehrsplanung konsequent vorangetrieben... auf der anderen Seite scheint es über die Festlegung von Geschosszahlen hinaus keine übergeordneten Richtlinien für die Ausgestaltung dieses zentralen Bereichs ... nach Art eines Masterplans gegeben zu haben. Wer wie baute, blieb offenbar weitgehend den insgesamt lokal verorteten Akteuren ... überlassen.“ Oder Franziska Wiegand über das Münsterstraßenviertel in der Dortmunder Nordstadt, am anderen Ende des Reviers: „Das Münsterstraßenviertel kann nicht im Sinne eines Gesamtentwurfs betrachtet werden, sondern als ein sich veränderndes System, bestimmmt durch Regeln, Ausnahmen, historische Wendungen und die Interessen einzelner Akteure. Es ist keine städtebaulich oder architektonisch geplante Einheit, sondern ein Gebilde, das aus Fragmenten in unterschiedlichen Relationen besteht.“ Gerade an diesem Beispiel erscheintdie Behauptung eines „urbanen“ Leitbilds geradezu absurd: Hätte es ein solches gegeben, wäre die parallel zur geschäftigen, kleinteiligen Münsterstraße in den Stadtgrundriss geschlagene Leopoldstraße wohl kaum als eine derart menschenfeindliche, autogerechte Trasse angelegt worden, sondern als großstädtischer Raum, in dem verschiedene Bedürfnisse nebeneinander existieren können.
Letztendlich bleibt der Eindruck, dass der eben doch überwiegend lokalen Bedürfnissen ohne verbindliches Leitbild folgende oder aber auf personell und planerisch in den 30er Jahren wurzelnden Voraussetzungen fußende Ansatz des Wiederaufbaus im Ruhrgebiet von Sonne als Munition verwendet wird in dem vor 25 Jahren an der Neugestaltung Berlins aufgebrochenen Streit zwischen „Konservativen“ und „Avantgardisten“, über den inzwischen aber auch die Zeit hinweg gegangen ist. Im Gedächtnis bleiben neben den fundierten stadtgeschichtlichen Erkenntnissen aus den Fallbeispielen die Fotos von Matthias Koch, welcher die untersuchten Stadtgebiete auf eindrucksvolle und die Neugier weckende Weise porträtiert hat; seine Serien leiten das jeweilige Fallbeispiel ein.
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