The Building of Finland
Einhundert Jahre Unabhängigkeit im Spiegel der Architektur
Text: Stock, Wolfgang Jean, München
The Building of Finland
Einhundert Jahre Unabhängigkeit im Spiegel der Architektur
Text: Stock, Wolfgang Jean, München
Als am Jahreswechsel 2017/18 das einhundertjährige Bestehen der Republik Finnland gefeiert wurde, kamen in den Medien etliche kulturelle Eigenarten der Finnen zur Sprache, vom Nationalepos Kalevala bis hin zu ihrer Tango-Begeisterung. Ein wichtiger Punkt aber blieb unerwähnt, auch in der Qualitätspresse: die Bedeutung der Architektur beim Aufbau des neuen Staates. Schon davor, um 1900, hatte sie eine große Rolle gespielt. Finnland, bis 1809 unter schwedischer Herrschaft, danach ein autonomes Großfürstentum im Russischen Reich, sollte unter dem letzten Zaren Nikolaus II. „russifiziert“ werden. Dagegen lehnte sich die finnische Kultur auf, in der Architektur allgemein sichtbar durch die Ausbildung der „Nationalromantik“ mit der programmatischen Verwendung einheimischer Materialien, vor allem von Granit. Nach der im Januar 1918 von Lenin endlich bestätigten Unabhängigkeit ging die Nationalromantik allmählich in den nordischen Klassizismus über, dem auch der junge Alvar Aalto verpflichtet war. Doch nur wenige Jahre später sorgte Aalto für die entscheidende Zäsur: 1929 wurde in Turku das von ihm entworfene Verlagshaus vollendet, das erste konsequent moderne Gebäude in Skandinavien. Damit begann eine Entwicklung, die im Rückblick als „finnisches Architekturwunder“ bezeichnet wird. Diesen international bewunderten Siegeszug dokumentiert das vorliegende Buch, das sich Finnland zum Jubiläum selbst geschenkt hat.
Mit diesem stattlichen Band hat man nicht weniger als das ganze Spektrum des finnischen Planens und Bauens von der frühen Moderne bis zur unmittelbaren Gegenwart in der Hand. Geradezu vorbildlich ist auch seine Gestaltung: Die zahlreichen Aufsätze sind in einer angenehm ruhigen Typografie sorgsam gegliedert und werden von oft großformatigen, sowohl historischen als auch neuen Fotografien begleitet. Diese Bilder wiederum sind nicht mit schlichten Legenden versehen, sondern mit kürzeren Texten, die jedes Motiv eigens erläutern. Ungewöhnlich für ein Architekturbuch sind die häufigen Fotos von Baustellen, die Bertolt Brechts berühmte Frage beantworten, wer das „siebentorige Theben“ errichtet habe. Sie zeigen nämlich Kolonnen von Bauarbeitern, die bis in die 1960er Jahre hinein von Hand hart schuften mussten.
So stolz Finnland auf seine moderne Architektur sein kann, so wenig ist dieses Buch eine bloße Leistungsschau. Es geht vielmehr in die Tiefe, es beleuchtet die Entwicklung auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Selbstkritisch werden auch Fehlentwicklungen erwähnt, etwa die Versuchung der „autogerechten Stadt“ in der späten Nachkriegszeit. „Vom Bauernhof zur Vorstadt“ hat die renommierte Architekturhistorikerin Riitta Nikula ihren Aufsatz betitelt, der den Weg vom armen Agrarstaat zum heutigen Land der Start-ups nachzeichnet. In weiteren Beiträgen sind Ingenieurleistungen ebenso ein Thema wie der große Bereich der Gemeinschaftsbauten im zunehmend sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaat: Schulen, Bibliotheken, Sportstätten, Universitäten, Kirchen und Krankenhäuser. Eminent wichtig war und ist der Wohnungsbau mit seinem allmählichen Wandel von industriell gefertigten Betonplatten hin zur wieder entdeckten Holzbauweise.
Neben dem Großmeister Alvar Aalto, der allerdings keine Schule begründet hat, lernt man auch seine Zeitgenossen wie Erik Bryggman kennen und seine geistigen Nachfolger, die inzwischen ganz andere Wege wagen, wie etwa das junge Büro Avanto mit seiner öffentlichen Sauna in Helsinki. Auch wenn der Architekt und Theoretiker Juhani Pallasmaa angesichts der riesigen Bauvolumen davor gewarnt hat, dass die finnische Architektur ihre Seele verlieren könne, ist das Land bis heute ein faszinierendes Laboratorium, denkt man nur an die neuen gemeinschaftlichen Wohnformen, die gerade in Berlin nachgeahmt werden. Einmal jedoch wurde Finnlands Aufstieg zu einem Vorreiter der modernen Architektur gebremst: durch den Zweiten Weltkrieg, an dessen Ende Großdeutschland den gesamten Norden des Landes als verbrannte Erde hinterließ.
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