Bauwelt

Die Cité de la Muette

Heroische Moderne, Vorhölle, Banalität, Monument

Text: Uyttenhove, Pieter, Paris

Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods


Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods


Eventteaser Image
  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods

  • Social Media Items Social Media Items

Foto: Marcel Lods


Die Cité de la Muette

Heroische Moderne, Vorhölle, Banalität, Monument

Text: Uyttenhove, Pieter, Paris

Von 1931–34 entstand in Drancy, einem Vorort in lockerer Einzelhaus-Struktur etwa zehn Kilometer nordöstlich von Paris, die Cité de la Muette. Dieses von den Architekten Eugène Beaudouin und Marcel Lods als „vertikale Gartenstadt“ konzipierte Projekt fand in den Kreisen der Modernisten weltweit sofort begeisterte Anerkennung.
Im Projekt von Drancy treffen verschiedene historische Entwicklungslinien aufeinander: Theorien und Experimente zur Gartenstadt; an die industrielle Rationalisierung des Bauens geknüpfte Erwartungen; Ideologien zum „Existenzminimum“; die Anfänge planmäßiger Erschließung des Umlands großer Metropolen; die Dringlichkeit sozialen Wohnungsbaus; der Hochhausbau; der soziopolitische Entwurf der „Cité“; die Entflechtung der Städte; die Metapher der „Wohnmaschine“ etc. Hier soll es um die Frage gehen, wieweit Architektur Entwürfe für soziale Utopie schaffen kann – oder ob gebaute Utopien sich nicht geradezu für eine totale Perversion ihrer ursprünglichen Intentionen anbieten?
Die historische Entwicklung stellt ein Projekt der Moderne in Frage
Im Jahr 1939, auf der Ausstellung zeitgenössischer Architektur, die das New Yorker Museum of Modern Art anlässlich seines zehnjährigen Bestehens ausrichtet, wird die Cité de la Muette in Drancy folgendermaßen charakterisiert: „Wenn die Arbeiten beendet sind, wird hier eine in sich geschlossene Stadt entstanden sein, mit eigenen Schulen, einer Kirche, Sportplätzen, einem Gebäude für Erholung und Freizeit, Läden und sogar einer gemeinsamen zentralen Wärmeversorgung. Finanziert durch den Staat. Die weiträumig verteilten Hochhäuser versprechen den Bewohnern Licht, Luft und ungestörtes Privatleben; ihre Lage am nördlichen Rand des Ensembles verhindert, dass bebaute Flächen überschattet werden. Trotz baulicher und technischer Mängel steht das Konzept für einen Lösungs-Typus im Wohnungsbau, der bisher nirgendwo realisiert wurde.“ In den dreißiger Jahren ist Lods felsenfest von seinem Projekt überzeugt: „In dieser Stadt, die sich anarchisch und rasend schnell entwickelte, wollte man wenigstens in einem Quartier Ordnung herstellen: in der Cité de la Muette. Drancy 1932, das waren die ersten Wohnhaustürme Europas, die ersten Wohnungsbauten mit 14 Geschossen! Gebäude mit Aufzügen, Zentralheizung, pneumatischer Abfallentsorgung, deutlich gehobenem Standard – und einer großen zentralen Grünfläche für Kinder. Unter sozialem Wohnungsbau ist damit auch die Summe aller Aspekte des sozialen Zusammenlebens zu verstehen: neben dem Wohnumfeld auch Schulen, Müllabfuhr, Spielplätze.“ Die Gesamtheit des sozialen Alltags ist die eigentliche Grundlage, auf der diese Architekturkonzeption basiert: „Freie Bodenflächen, Begrünung, deutliche und kompromisslose Ausrichtung, getrennte Verkehrsführung, maximale und ungestörte Aussicht, Gemeinschaftseinrichtungen im jeweiligen Wohnblock, kurz, die Wohnstadt der heutigen Zeit.“
Was war fünf Jahre später noch übrig von diesem exemplarischen Urbanistik-Projekt, das zwei funktionalistische Architekten im Geist der Moderne entworfen hatten? Darf man nach Drancy-la-Muette mit den modernistischen Architekten weiterhin daran glauben, dass mit Hilfe von Architektur Gesellschaft zu formen sei? Einigen Architektur-Historikern gilt diese „ambivalente, aber wichtige Arbeit in der Geschichte des französischen Wohnungsbaus“ als zugleich „wegweisend“ und „gescheitert“. Bereits mit Beginn der Bauarbeiten und ungeachtet der Anerkennung in fortschrittlichen Kreisen war die Cité de la Muette in der Bevölkerung alles andere als beliebt. Schon die Bauweise war ein erster Grund dafür. Léandre Vaillat ließ es sich denn auch nicht nehmen, auf das Missverhältnis zwischen der minderen Qualität der verwendeten Materialien und den „ungemein aufwendigen mechanischen Einbauten“ hinzuweisen. Die damalige Presse apostrophierte die Türme als die „vermaledeiten Wolkenkratzer“, als „absurde und unmenschliche Schuppen“. In seinem monumentalen und konservativ-reaktionären Werk „Le Grand Paris“ fragt sich Louis Thomas, „wer zum Teufel wohl auf den unsäglichen Einfall gekommen sein mag, dort diese fünf Türme mit 15 Geschossen aufzupflanzen und das Ganze auch noch mit einer überdachten Terrasse zu versehen?“ Er sieht in der „seltsamen Stadt, deren Krönung jene prätentiösen Wolkenkratzer sein sollen“, den Ausfluss „der überreizten Phantasie der beiden Herren Architekten Beaudouin und Lods, von denen sich zumindest so viel sagen lässt, dass sie sich viel eher als Theoretiker – irrealistische, exzessive und willkürliche Theoretiker – denn als besonnene und vorausschauende Baumeister erwiesen haben.“ In seiner Interpretation der „Wirklichkeitsferne dieser verzückten Künstler einer hohlen Logik“ sieht Thomas – anstatt mit Léandre Vaillat einen „modernen Romantizismus“ des von ihnen vertretenen Ansatzes zu erkennen – in der „Nutzlosigkeit dieser Wolkenkratzer in solch einem Vorortwinkel“ den Beweis für die „Irrationalität“ und den „Irrsinn“ der Hochhäuser von Drancy. Darüber hinaus kanzelt er das Projekt als „verfehlt intellektualistisch und eiskalt“ ab.
Wie eine kuriose Sehenswürdigkeit wird Drancy von zahlreichen Architekten und bedeutenden Persönlichkeiten aus dem Ausland besichtigt. Für einige sind bereits an der Baustelle – wo vorgefertigte Betonteile auf ein Metallskelett montiert werden – die späteren Schwierigkeiten vorauszusehen. Schwachstellen werden schon jetzt benannt: Lärmdämmung, Schlampereien in der Ausführung, mangelnde Vorkehrungen gegen eindringende Feuchtigkeit, die zu dünnen Innenwände und die Tatsache, dass es in den oberen Geschossen im Sommer er stickend heiß, im Winter eisig kalt werden würde. Zwischen 1932 und 1935 werden die Türme und die Kammgebäude errichtet. Doch radikale Einschnitte in das ursprüngliche Raumprogramm beeinträchtigen das funktionale und soziale Gesamtkonzept entscheidend. Von der zinnenartigen Gebäudegruppe, die das Ensemble nach Norden hin abschließen sollte, wird nur das westliche Teilstück gebaut. Viele Einrichtungen, etwa Gemeindezentrum, Schule und Kirche, werden gestrichen. Der Eingangshof wird erst nach dem Krieg errichtet. Mit der Amputation lebenswichtiger Organe verliert das Ensemble den Sinn, und die Cité kann das für die damalige Zeit ausgesprochen fortschrittliche Programm nicht erfüllen. Wie Jean-Louis Taupin bekräftigt, wird die bauliche Ausführung der Cité „zuerst stark eingeschränkt und gegen 1934 schließlich gänzlich unterbrochen, wobei in einem Klima sozialer Ungewissheit die wenig günstige Einschätzung zum Bevölkerungswachstum die Bautätigkeit in Frankreich zusätzlich lähmt.“ Rezession und Arbeitslosigkeit, die Mitte der dreißiger Jahre spürbarer werden, verbessern die Lage nicht gerade. Zusätzlich führen pragmatische Gründe – etwa die Entfernung nach Paris, mangelnder öffentlicher Nahverkehr, die sparsam bemessenen Grundrisse und fehlende Arbeitsplätze – dazu, dass die Wohnungen nicht angenommen werden. Das Ganze erinnert an „einen Haufen schäbiger Schuppen“. Die überteuerten Mieten werden angeprangert. Zu einer Zeit, als die Front populaire aufkommt, suggeriert „die Gartenstadt ohne Garten“ einen Entwurf für das gemeinschaftliche Zusammenleben, von dem manche befürchten, dass eine Konzentration von Menschen der Arbeiterklasse dort zu Aufständen führen und die Vorstädte in „revolutionäre Hochburgen“ verwandeln könnte.“ Henri Sellier, Leiter des Büros für bezahlbaren Wohnraum verschrieben hatte“ zu liefern.
Nachdem sich die Cité de la Muette als wenig attraktiv für Mieter erwiesen hatte, wird ein Teil, die Türme und der „Kamm“, an die Gendarmes de la Garde mobile vermietet. Für Lods war rückblickend diese Nutzung durch die Gendarmerie „eine Katastrophe: wir wollten doch keine Kaserne!“ Auf dem zentralen Platz, der ursprünglich dicht mit Bäumen bepflanzt werden sollte, übten Lastwagenfahrer. Das ist erst der Anfang einer desaströsen Entwicklung.
Mitte der dreißiger Jahre löste ein unerwarteter Temperatursturz ein wahrhaftes Inferno aus. Lods berichtet: „Die in Drancy einquartierten Militärs waren vom leitenden Hausmeister angewiesen worden, freitags vor dem Freigang bis zur Rückkehr Montag früh die Heizungen abzustellen. An einem solchen Freitag zeigt das Thermometer morgens 12, abends 2 bis 3 Grad an. Alle sind fort, die Heizungen abgedreht, die Fenster zum Lüften nur angelehnt. Samstag Morgen sind es -5, am Abend -15 Grad, erst am frühen Montagmorgen treffen die Mannschaften wieder ein: 600 Heizkörper sind eingefroren, alle Rohre geplatzt, kurz: eine furchtbare Sache.“ Selliers Gegner sehen ihre Chance, alle Zeitungen drucken donnernden Protest: Die Architekten seien unzivilisierte Wilde, die Gebäude unmenschlich usw. Zementbrocken aus den vorgefertigten Abdeckungen lösen sich vom Eisen-Tragwerk. Die Konstruktion wird sogar gefährlich. Laut einem zeitgenössischen Artikel „wird es immer kälter, je höher man kommt. Wenn schon im Erdgeschoss oder in einigen Metern Höhe bei moderaten Außentemperaturen die Aufenthaltsbedingungen in den Räumen gerade noch akzeptabel sind – wie soll es dann in 10, 15, 20, 30 oder 45 Metern Höhe in den Wohnungen überhaupt noch ‚auszuhalten‘sein? Das ist der Fehler an den Neuerungen der Herren Beaudouin und Lods. Mit Mauerwerk wäre das nicht passiert. Wie oft muss man noch wiederholen, dass diese Konstruktionen aus Eisen und Stahl in unseren Breiten für unsere Wohnhäuser selbst bei bescheidenen Ansprüchen ungeeignet sind. Es gibt auch anderes als Eisen, das Wärme und Kälte ungedämmt weiterleitet. Ja, meine Herren Beaudouin und Lods, und auch Sie, Monsieur Sellier, falls Sie es noch nicht wissen sollten, sagen wir es Ihnen jetzt: Es gibt den hiesigen französischen Stein oder den Ziegel, den Backstein. Zumindest werden Ihre Experimente der Erkenntnis dienlich sein. Sie sind bloß teuer, mehr nicht.“ Der Totalschaden droht. Louis Thomas beschreibt den Zustand von Verwahrlosung, in dem sich der so genannte Hufeisen-Bau befindet, jener Teil der Cité, dessen U-Form Beaudouin vom Großen Markt in Isphahan übernommen hatte: „Doch das riesige Hufeisen-Gebäude im Westen des Komplexes steht leer. Man nutzt einige der Räume für eine Schule, aber 29 von 30 Teilen des Gebäudes voller riesiger Fensterflächen bleiben dem Übermut der Kinder überlassen, unter deren Steinwürfen bereits Scheiben im Wert von mehreren zehntausend Francs zu Bruch gegangen sind.“
Die Cité wird zum Lager
Weitaus dramatischer jedoch als dieser materielle Zerfall sind die dann folgenden Ereignisse. Die Cité erhält eine neue Funktion, der Anstoß dazu kommt bei Kriegsbeginn von der Regierung Daladier. Es geht darum, die Mitglieder der PCF (Partie Communiste Français) und andere unerwünschte Personen zu isolieren. François Maspero schreibt in seinem Roman „Roissy-Express“: „Als die PCF ungesetzlich und die Kommunistenjagd rechtens wird, erhält die unvollendete Baustelle von la Muette eine neue Aufgabe: Die Machthaber richten das Hufeisen als Internierungslager ein. Eine mit Stacheldraht bewehrte Doppel-Mauer wird um das U gezogen, ein Rundgang mit Wachtürmen in den vier Ecken gebaut. Die Raumaufteilung des Hufeisens aus dem dritten Bauabschnitt leistete der Transformation der Baustelle in die Gefängnisanstalt der Re¬publik Vorschub. Zu den Kommunisten gesellen sich die Verdächtigen der ‚Cinquième Colonne‘. Sehr bald werden dort auch auf Ausweisung wartenden ‚Feinde‘ interniert, insbesondere deutsche Juden, die aus Deutschland entkommen waren.“ Unter dem Vichy-Regime wird das Lager von Drancy für die provisorische Inhaftierung von französischen und englischen Kriegsgefangenen und von Zivilisten genutzt. Die Deutschen besetzen den Ort und machen daraus ihr „Frontstalag III“.
Die Leitung des Lagers wird dem jungen SS-Offizier Theodor Dannecker übertragen, der am 18. Juni 1943 vom Hauptsturmführer der SS, Alois Brunner, abgelöst wird, wobei das Lager de facto in den Händen der französischen Polizei bleibt. Für Frankreich wird Drancy zur Drehscheibe der Deportationen. Das Hufeisen-Gebäude ist Transitlager für die Juden auf dem Weg in die deutschen Lager. Insgesamt hunderttausend Menschen waren dort interniert, die ersten treffen im August 1940 ein. Im Lager wurden bis zu 7000 Personen in Gebäuden zusammengepfercht, die für ursprünglich 700 Bewohner ausgelegt waren. Drancy, ein „von der Erinnerung heimgesuchter Ort“, wird zum einzigen Sammelpunkt für die Deportationen aus dem gesamten Frankreich, Kopfbahnhof für Auschwitz. Vom ersten Transport am 22. Juni 1942 bis zu den Gefangenen, die am 17. August 1944 bei der Aufgabe des Lagers am Kriegsende verschleppt werden, sind über 67.000 Menschen von Drancy aus deportiert worden.
Die U-Form des Hufeisens erwies sich als überaus günstig; um es zu schließen genügte ein Schlagbaum, während im Innenhof ebenerdige Sanitärbaracken aus Holz aufgeschlagen wurden. Die offene Seite wie auch der äußere Wachgang entlang der Flügel war mit Stacheldraht gesichert. „Die Anordnung der Gebäude bot sich für diese neue Funktion als Internierungslager unter völliger Überwachung geradezu an. Die einzelnen Blocks heißen nach den Buchstaben des Alphabets, die 22 Treppenaufgänge sind durchnummeriert. Die Trennwände in den Wohnungen waren nie eingebaut worden, jeder Treppenabsatz führt in einen einzelnen, großen Raum pro Geschoss, mit hölzernen Stockbetten und einem Waschbecken darin. Dreißig bis vierzig Menschen sind hier zusammengepfercht. Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss sind den allgemeinen Funktionen vorbehalten: Krankenstation, Friseur, Lagerladen, Schneiderei, Kantine, Vorratsraum für Gemüse und Schälküche“, präzisiert der Historiker Rémi Baudouï.
Für die Polizeibeamten von Vichy ist die noch ungenutzte Cité de la Muette dank der Leichtigkeit, mit der der Raum abgeschlossen, kontrolliert und bewacht werden konnte, der ideale Ort für einen repressiven Apparat. Die Nähe zur Bahnlinie und die Tatsache, dass einige der Gebäude bereits an die Gendarmerie vergeben waren, haben zur Wahl der Cité de la Muette sicherlich das ihre beigetragen. Selbst 1944 wurde das Lager noch nicht aufgelöst. Bis 1946 diente es der Inhaftierung von Kollaborateuren. Anschließend wurde alles bereinigt. François Maspero konstatiert: „Die Cité de la Muette wurde ganz einfach ihrer ursprünglichen Funktion zugeführt. Es brauchte nicht viel, um ein Lager daraus zu machen. Stacheldraht und einige Holzbaracken genügten, daneben waren nur noch die Durchgänge unter den Galerien zuzumauern. Sogar die Gendarmerie stand schon bereit. Es war auch kein großer Aufwand, das Lager wieder dem sozialen Wohnungsbau zurückzuführen. Einfach Stacheldraht und Baracken demontieren, Kanalisation und Innenwände einbauen, anstreichen. Im Grunde eine Art erster ‘Wiedergutmachung’. Man hielt es nicht einmal für nötig, die Gendarmerie zu verlegen. Sie ist immer noch dort, in den benachbarten Türmen.“ Wenn auch seit dem Krieg laut Maspero „die Stadt ihr Äußeres verändert hat, so ist ihr doch die Grundstruktur und etwas Undefinierbares geblieben, welches wohl ihre eigentliche Natur ist.“
Die erste Cité
Lods stellte sein Projekt nie in Frage. In einer Note an das Ministerium für Wiederaufbau und Städteplanung vom 20. März 1945 rekapituliert er die Gründe für seine stadtplanerische Wahl von Drancy und unterstreicht den urbanen Charakter des Projektes, zugleich prangert er an, wie dort die programmatische Ausstattung mit Gemeinschaftseinrichtungen zusammengestutzt worden war: „Es ist kein Wunder, dass man an dem unglücklichen Drancy nichts finden kann. Dass hier jeglicher Sinn fehlt, das ist allerdings eine drastische Lektion. Daran wird unter anderem deutlich, dass vor allem eine übergeordnete Idee und ein Plan des Ganzen notwendig sind. Dieser einsame Vorstoß mitten in einem hoffnungslos chaotischen Umfeld entfaltet nur dann seinen ihm auf natürliche Weise eigenen Sinn, wenn seine Komposition in etwas eingebunden werden könnte. Muss man daran erinnern, dass der Versuch zwar unternommen wurde, dass er aber bei den verantwortlichen Verwaltungsbeamten der Region kaum auf Interesse stieß – damals? Muss man noch erwähnen, dass der Entwurf gekappt und damit alle Gebäude, die daraus ein Ganzes hätten entstehen lassen, fehlen (vgl. beiliegende Skizze), dass es weder Parks noch Grünflächen gibt? Dass man die Gebäude, nachdem man sie vier Jahre lang hatte leerstehen lassen, zu einer Kaserne für die Gendarmen umbaute und so Magazine für Munition, Uniformen, Waffen und Geschütz entstanden, wo Kindergärten und Spielplätze geplant waren? Drancy muss man nicht als Gegenentwurf zu Tergnier begreifen. Tergnier ist eine Lösung mit verstreuten Einzelhäusern. Das ist angemessen, sofern ausreichend Bauland zur Verfügung steht. Drancy ist ein Entwurf für eine hohe Bevölkerungsdichte (mehr als hundert Wohneinheiten pro Hektar mit viel Luft, großzügigem Lichteinfall und sehr ausgedehnten Grünflächen.) Tergnier ist ländlich. Drancy ist städtisch. Werden wir es besser machen? Sicherlich, darauf hoffe ich. Genau dafür arbeiten wir!“
„Das Problem der Architektur, wie es an Drancy deutlich wird und das sich seit Anbeginn der Zeiten stellt, ist kein technisches, sondern ein politisches Problem: Die politischen Kräfte entscheiden einen Auftrag, die Architekten führen ihn aus“, notiert Lods denn auch im Geist einer dirigistischen Politik, wie sie die Vichy-Regierung betrieben hat – „ein Regime, welches er nie wirklich abgelehnt, nie ganz unterstützt hat“, so Danièle Voldman. „Welche Schlüsse ergeben sich aus dieser beklagenswerten Entwicklung, an der deutlich wird, wie ein Gebäude im Sinne eines Auftrages errichtet wurde und dann willkürlich einer funktional völlig entgegengesetzten Aufgabe zugeordnet werden konnte? Einfach, dass der Auftrag maßgeblich ist und dass sich die Architektur als gehorsame Dienerin des für die jeweilige Aufgabe beschlossenen Programmes zu erweisen hat, so wie wiederum die Konstruktionstechnik der Umsetzung des architektonischen Entwurfs dient“, erklärt Lods.
Für die Generation reformorientierter Architekten zwischen den Kriegen entscheidet sich in der Banlieue nicht nur das Schicksal der städtischen Gesellschaft, sondern auch das der modernen Architektur. Diese „rote Banlieue“ – der Gürtel aus Fabriken und Lagerhallen rund um Paris, aber auch die Garten-Städte von Sellier, die ersten Wolkenkratzer in Drancy, die Karl-Marx-Schule von André Lurçat in Villejuif – fungiert als „Experimentierfeld“ der verschiedenen Modernen von den zwanziger bis in die sechziger Jahre. Denn aus Stadt, Banlieue und Cité bzw. dem große Gebäude-Ensemble ergibt sich eine Dreiecks-Konstellation, die die übliche bipolare Opposition von Innenstadt und Peripherie aufbricht. Die Bauform des großen Ensembles bietet sich als doppelter Lösungsansatz sowohl für die drängende Enge der Zentren als auch für die desorganisierten Vororte an: die Cité als dritter Weg. Von der Auseinandersetzung über die Architektur der Moderne, die kollektive Großbauten als Gegenentwurf zum isolierten Einzelhaus propagiert, suchte Lods sich durch eine Kritik abzugrenzen, die dem Einzelnen die Masse gegenüber stellt: „Ein Problem, das klar erkennbar hätte bleiben müssen, wurde verschleiert, indem man willkürlich persönliche Vorlieben, leidenschaftliches Engagement und Geschmack mit einbrachte, Elemente, die dort nichts verloren hatten. Es verfälscht die Auseinandersetzung, wenn man von internationaler Architektur im Gegensatz zur nationalen Architektur eines Landes mit ‚alter Zivilisation‘ redet. Es verfälscht, der ‚Muschelschale des kleinen Hauses‘ – eine Formulierung, die dem Französischen sozusagen eher entspricht – den ‚gigantischen Termitenhügel‘ entgegenzustellen, der wohl nur von unpatriotischem Geist erdacht werden konnte.“ Lods’ Entwurf für den Wiederaufbau von Mayence stieß auf dieselben Anfeindungen, derer er sich bereits leidenschaftlich erwehrt hatte, indem er solche Angriffe mit den schlimmsten ideologischen Kontroversen zwischen totalitärem Gedankengut und demokratischer Einstellung gleichsetzte: „Die großen Gemeinschaftsbauten haben in Wahrheit niemals totalitäre Theorien begünstigt. Genau das Gegenteil ist jeweils eingetreten. Solche Vorhaben, die in Deutschland oder anderswo (etwa in Schweden, um nur die gelungensten zu nennen) als Versuch kollektiver Großbauten entstanden, wurden nie unter totalitären Regimes, sondern im Gegenteil immer in demokratischen Zeiten gebaut. Die große Bewegung der deutschen Architekturmoderne von 1925-30 realisierte eine Reihe kollektiver Projekte. Nennen wir zum Beispiel: Köln-Kerkerfeld 1927, Hamburg 1928, Frankfurt am Main 1928, Berlin-Siemensstadt 1927 und viele mehr. Diese Bewegung entstand ausschließlich zur Zeit der Weimarer Republik. Hitlers erste Sorge war, sie zu verjagen. Die fähigsten Architekten gingen ins Exil, die Länder, die sie aufnahmen und ihnen ein Auskommen boten, profitieren davon: Gropius lehrt in Harvard, Ernst May wirkt nach einer Schaffensperiode in der Sowjetunion derzeit in Südafrika, Mendelsohn arbeitet im Mittleren Osten, nachdem er in London Station gemacht hatte. Danach baute das Nazi-Regime – gerade weil es eine totalitäre Ordnung war – nur isolierte Einzelhäuser. So muss man die Annalen schreiben.“ Ironie des Schicksals, dass die vertikale Gartenstadt Drancy zudem das erste Großensemble Frankreichs war. Architekten wie Lods und Beaudouin führten eine in ihrer Technikgläubigkeit totalitäre Denkweise in die Auffassung von moderner Architektur ein, während für die ideologisch inspirierten totalitären Regimes die Masse nicht nur zu Menschenmaterial im Dienste der Monumentalisierung des sozialen Lebens degradiert wurde, sondern darüber hinaus als das Objekt einer obsessiven und ununterbrochenen Kontrolle des „nackten Lebens“ jedes Einzelnen herhalten musste. Diese Art Architektur, im Falle von Drancy provisorisch zum Lager umfunktioniert, ist ein System, in dem der Ausnahmezustand manifestiert wird. Mit Giorgio Agamben muss man sich fragen, worin genau die inhärente Struktur dieser Architektur und des zugehörigen Entwurfes besteht, damit die „pervertierte Wirkung“ einer funktionalisierten Architektur eintreten kann: „Das Lager als Ort der Dislozierung ist die geheime Matrix eines politischen Konzeptes, in dem wir noch heute leben, und wir müssen lernen, sie in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen wiederzuerkennen: ob in den Transithallen unserer Flughäfen oder den Vorstädten unserer Metropolen.“ Bereits in den sechziger Jahren hatte Pierre Francastel wenig auf die Architektur Le Corbusiers gegeben. „In jener Welt, die sich Le Corbusier zusammengeträumt hat, sind Frohsinn und Sauberkeit ein Muss – vom Rest ganz zu schweigen. Ist sich Monsieur Le Corbusier darüber im Klaren, dass man in Buchenwald zu Geigenmusik einmarschierte? Dies ist ein absichtlich harsches Wort. Das Universum von Le Corbusier ist die Welt der Konzentrationslager. Es ist, im besten Fall, das Ghetto.“
Gedenkstätte oder Kulturerbe
Die Perversionen, zu denen die großen Gebäude-Ensembles verleiten, fasst François Maspero karikierend in einem historischen Kurzdrama zusammen: „Die Cité de la Muette, Stück in drei Akten. Strahlende Stadt. Stadt des Todes. Banale Stadt. Banal. Banalisiert. Und schon: rehabilitiert. Es heißt aber, man soll die Hoffnung nie aufgeben.“ Gleich nach dem Krieg kann das Lager von Drancy noch nicht Erinnerungsstätte werden. „Nachlässigkeit oder willentliche Tilgung der Erinnerung? Der Schiffbruch des Gedächtnisses bewirkt Verdrängung“, erklärt Rémi Baudouï. Diese Unterlassungshandlung führte zu einem reduktionistischen Konzept für die Idee der Cité im historischen und philosophischen Sinn. Arnaud des Pallières, Autor des Films „Drancy Avenir“ von 1998 über das Lager in der Cité de la Muette, radikalisiert diese Analyse, indem er sagt: „Wer eine gegenteilige Auffassung vertritt, macht sich einer Naivität schuldig, die man schon als kriminell einstufen muss.“
Es ist erstaunlich, dass die Cité de la Muette und ihr tragisches Schicksal von der Architekturkritik vor den siebziger Jahren nicht einmal gestreift wurde. Ginette Baty-Tornikian und François Laisney waren vermutlich die ersten, die die historischen Konturen von Drancy nachzeichneten, als die Türme und die Quergebäude abgerissen wurden, während der Hufeisen-Teil, das Lager, erhalten blieb. Für Baty-Tornikian ist die Cité von Drancy, ihre Geschichte und Zerstörung Teil vom infernalischen Zyklus des Objektes in der Konsumgesellschaft: „Produktion, Konsumtion, Ausverkauf, Zerstörung, Produktion...“ Laisney erkennt im Abriss der Türme und Quergebäude von Drancy im Jahre 1976 eine Reihe von „Fragen, die unter anderem die Ambivalenz der Konservierungspolitik von Baudenkmälern der Moderne vor Augen führen.“
Heute, mit dem zu erwartenden Eintrag in die Liste der Baudenkmäler, stellt sich der Cité de la Muette das doppelte Problem ihres Erhalts als Kulturerbe der Moderne und gleichzeitig in ihrer Rolle als Erinnerungsort. Unter architektonischen Gesichtspunkten ist das Hufeisen nur ein blasser Abglanz der in den siebziger Jahren zerstörten Türme und des Kamms, die in Konstruktion und Entwurf weitaus moderner gewesen waren.
Zudem ist fraglich, ob der Erinnerung an das Lager mit einer „Umwandlung dieser Spuren in ein Kulturerbe“ gedient wäre. Entsprechend ihrer Auffassung, dass die Überbleibsel der Cité nur eine wertlose Ruine und aus architektonischer Sicht weder authentisch noch von Interesse seien, sieht Françoise Choay in der Cité de la Muette „eine echte und unumgängliche Erinnerungsstätte“, von einem Typus, der wesentlich dem zwanzigsten Jahrhundert angehört. Ihrer Ansicht nach „geht es nicht mehr darum, die lebendige Erinnerung an eine bestimmte menschliche Gemeinschaft wach zu halten, wie es seit den Anfängen für herkömmliche Denkmäler typisch ist, um eine spezifische und lokale Identität zu stärken. Dieser Ort wendet sich an die lebendige Erinnerung aller Lebenden in ihrer Eigenschaft als Menschen, um ihnen jene Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die ihr Menschsein in Frage stellten.“
So steht das einstige Symbol einer progressiven Moderne, die Cité de la Muette, heute vor der Wahl, entweder ein Ort des Gedenkens an den Totalitarismus zu werden oder aber ein mittelmäßiges – und unreflektiertes – Zeugnis für die Architektur der Moderne.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke

0 Kommentare


loading
x
loading

23.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.