Bauwelt

En miniature: Die Modelle des I.S.M.E.S. in Bergamo

Text: Neri, Gabriele, Mailand

En miniature: Die Modelle des I.S.M.E.S. in Bergamo

Text: Neri, Gabriele, Mailand

Nervi ließ für seine Projekte am Institut für Modellstudien in Bergamo Prüfmodelle anfertigen. Nach den Belastungstests im Kleinen wurden die Bauten realisiert. Dazu gehörte Mut. Für Ernesto N. Rogers beruhte das Geheimnis Nervis in seiner Fähigkeit, die innere Wahrheit, das innere Wesen der Dinge zu erkennen und herauszudestillieren.
Im mühseligen Prozess der Konkretisierung einer Tragkonstruktion betrachtete Pier Luigi Nervi das Experiment immer als beste Methode, um die Regeln der reinen Theorie zu sprengen, die sich beim Ausloten der vielfältigen Möglichkeiten des von ihm bereits in jungen Jahren entwickelten neuen Baustoffs Ferrozement als unzulänglich erwiesen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Arbeit mit kleinmaßstäblichen Prüfmodellen eine Konstante seiner Entwurfsarbeit darstellte. Nervi nutzte die Modelle, um seine unbewiesenen Annahmen zu „testen“ und zu optimieren. Diese Arbeitsweise wurde ab den dreißiger Jahren vorangetrieben. Voraussetzung war die Erarbeitung komplizierter Analogie-Prinzipien, mit deren Hilfe sich die proportionalen Beziehungen zwischen der physischen Größe eines Modells und des Originals gegeneinander aufrechnen ließen. Die Daten wurden gesammelt und in ein nachschlagbares Regelwerk übertragen
Den ersten Anlass für einen Testlauf bot sich Pier Luigi Nervi 1935, als er mit den Schwierigkeiten der Berechnungen für seine  Flugzeughangars  konfrontiert war. Nervi bat den zu der Zeit bedeutenden Ingenieur Arturo Danusso (1880–1968) um Hilfe. Danusso war Gründer einer damals als avantgardistisch zu nennenden Forschungseinrichtung für experimentelle Verfahren bei der Tragwerksplanung am Mailänder Politechnikum.
Dieser Kontakt war wichtig, da Nervi die statische Belastbarkeit der von ihm vorgeschlagenen Konstruktion zwar intuitiv erfasste, aber nicht in der Lage war, das komplexe Spiel der Kräfte für das Tragwerk der Hangars analytisch zu bestimmen. Die Konstruktion ließ sich aus den damals geläufigen Formeln nicht herleiten. Man reproduzierte daher das imposante Tonnengewölbe, eine Dachkonstruktion aus rechtwinklig sich kreuzenden Rippen über einer rechteckigen Grundfläche von etwa 110 auf 36 Metern, in einem Zelluloid-Modell im Maßstab von 1:37,5. Anschließend belastete man das Modell mit genau austarierten Gewichten, welche an Bändern an den Scheitelpunkten der Konstruktion eingehängt wurden. So ließen sich die Auflasten simulieren. Zusätzlich wurden neben dem Gewicht der Rippenkonstruktion aus Ferrozement und dem Eigengewicht des Dachs die unterschiedlichen Windlasten nachgestellt. Die Eigenschaften der für das Modell verwendeten Materialien dienten als analoges Pendant zur Berechnung der Kräfteeinwirkungen hinsichtlich der Material­elastizität beim geplanten Gebäude. Die Ergebnisse aus den Belastungstests, die mit Hilfe von Messinstrumenten für Materialdehnung und -elastizität erfasst wurden, bestätigten im Großen und Ganzen die Ausgangshypothesen Nervis, darüber hinaus ergaben sich Korrekturen hinsichtlich der strukturellen Effizienz des Gebäudes. Danusso erinnert sich später: „Auch hier waren die Berechnungen – wie bei Dante die Materie – taub und stumm. Das Modell aber blieb nicht stumm, im Gegenteil, es lieferte sehr wertvolle Hinweise zu nützlichen Verbesserungen.“ 1938/39 entstand eine modifizierte Version der Hangars als Modell im selben Maßstab.
Dank des glücklichen Zusammentreffens mit Danusso konnten die Hangars ohne Bedenken umgesetzt werden, und seither arbeitete Nervi auch bei anderen wichtigen Projekten mit der Mailänder Forschungseinrichtung zusammen, unter anderem bei dem – nicht realisierten – gewaltigen Bogen, den er als Vorschlag für die Weltausstellung in Rom von 1942 einreichte, und bei Teilen des Pavillons für das Mailänder Messegelände von 1947.
Die Aufträge an Danusso und seinen Schüler Guido Oberti häuften sich, und schon gegen Mitte der vierziger Jahre war die Basis für die Neugründung eines größeren, von der Universität Mailand unabhängigen Forschungsinstituts geschaffen. Entsprechender Bedarf ergab sich auch aus der Planung großer Talsperren und Brücken. Dank der Weitsicht einiger führender Köpfe der betonverarbeitenden Industrie und der Stromversorger wurde im September 1951 in Bergamo das Istituto Sperimentale Modelli e Strutture (I.S.M.E.S) gegründet, mit Danusso als Präsidenten und Guido Oberti als Direktor. Neben dem Bau von Talsperren zur Stromherstellung – das Institut in Bergamo wurde zu einem der weltweit führenden Institute auf diesem Bereich – verfolgte man die wissenschaftliche Betreuung von Großbauten. Mit dieser Unterstützung entwickelte Nervi einige seiner wichtigsten Projekte, angefangen beim Pirelli-Hochhaus in Mailand.
1954 hatte Nervi den Auftrag erhalten, die Tragwerksplanung für das  Pirelli-Hochhaus  nach dem Entwurf von Gio Ponti zu übernehmen, und wieder wurde seine ganz eigene konstruktive Lösung an Modellen im verkleinerten Maßstab bestätigt und perfektioniert. 1955–56 wurde die Konstruktion im gro­ßen Experimentier-Turm des Instituts im Maßstab 1:15 gebaut. Als Material verwendete man neben Zement einen aus Bimsstein hergestellten Mörtel, Eisendrähte stellten die Armierung dar, und eine Schicht aus Gummi simulierte den Untergrund. Das gut neun Meter hohe Modell wurde statischen und dynamischen Belastungstests unterzogen. Vor allem woll-te man die Auswirkungen der angesichts der eigenwilligen Form der Konstruktion auftretenden hohen Windlasten einschätzen. Der gewählte Maßstab in Verbindung mit den auf die veränderten Größenverhältnisse abgestimmten Material-eigenschaf­ten der Baustoffe ergab eine große Ähnlichkeit zum später errichteten Bau. Damit ließ sich der gewohnte Rahmen derartiger Tests sprengen und eine realistischere Einschätzung der Grenzwerte für einen möglichen Einsturz ermitteln: Man belastete das Modell bis zum Kollaps.
Auch in diesem Fall bestätigten die Tests die Gültigkeit von Nervis Ideen hinsichtlich besonderer Tragwerksstrukturen, zugleich wurden kleinere Verbesserungen entwickelt, die sich günstig auf das statische Gesamtverhalten auswirkten. Die während dieser Testreihen im Institut entstandenen Fotos zeigen das beeindruckende Modell mit den Systemen zur Simulation von Lasten samt den angeschlossenen Messinstrumenten und illustrieren anschaulich die Arbeit im Versuchslabor, in dem mit fast klinischer Akribie alles unter die Lupe genommen wurde.
Dank der zahlreichen Projekte am I.S.M.E.S. in den fünfziger Jahren erfuhren die auf dem Modellbau basierenden Forschungen in Italien große Beachtung und gewannen fast ei­nen wissenschaftlichen Status. Zu jener Zeit erweiterte Nervi den Aktionsrahmen über die Grenzen Italiens hinaus, und häufig griff er bei der Planung seiner Projekte auf die Unterstützung des Instituts zurück. Seine Berufung zum Nachfolger des Anfang der sechziger Jahre aus Altersgründen ausscheidenden Präsidenten Danusso vertiefte noch mehr die Beziehung zwischen Nervi und dem Institut. Es war eine Verbindung zum gegenseitigen Nutzen: Das I.S.M.E.S. garantierte einem der bekanntesten Konstrukteure der Welt wertvolle internationale Aufmerksamkeit, während die Kompetenz von Oberti und dessen Kollegen eine glaubwürdige Grundlage schuf, mit der sich die Auftraggeber von der Umsetzbarkeit der „Intuitionen“ Nervis überzeugen ließen.
Zu den Projekten, die Nervi in jenen Jahren in Bergamo testen ließ, zählt auch der  Wolkenkratzer in Montreal  (1962–66), für den er mit dem römischen Architekten Luigi Moretti zusammenarbeitete. Ursprünglich waren zwei gleiche Bürotürme geplant gewesen. Der mit seinen 185 Metern damals höchste Stahlbetonbau der Welt entstand 1962 am I.S.M.E.S. als Zelluloid-Modell im Maßstab 1:52,8. Die abgeflachte Kuppel mit einen Durchmesser von 135 Metern gehört zum 1971 realisierten  Cultural Center in Norfolk, Virginia.  Hier wurde beim Modell der Maßstab 1:50 gewählt. Als Materialien kamen das Epoxidharz Araldite, Kork und Sand zum Einsatz. Beide Projekte wa­ren vorab als Fiberglas-Modelle im Maßstab 1:100 im Windkanal des Turiner Politechnikums getestet worden.
Darüber hinaus wurden am Institut Tests unter Zuhilfenahme photoelastischer Verfahren (Verwendung von polarisiertem Licht) entwickelt, mit denen sich die einwirkenden Kräfte an einem Modell aus transparentem Material sichtbar machen ließen. Die suggestiven Bilder, die während dieser Testserien entstanden, schätzte Nervi sehr, er schwärmte von „der Schönheit und Poetik dieses Übersetzens von Krafteinwirkung in ein Spiel aus Licht“.
Ein Kapitel für sich ist die lange Versuchsreihe, die Nervi gemeinsam mit Pietro Belluschi in den Jahren 1963–65 für die  Saint Mary’s Kathedrale von San Francisco  durchführen ließ. Für die Dachkonstruktion aus acht hyperbolischen Paraboloiden waren vier Konstruktionsmodelle in unterschiedli-chen Maßstäben und Materialien erforderlich. Besonders das dritte Modell aus Zementmörtel im Maßstab 1:15, mit dem die Grenzwerte vor einem eventuellen Einsturz festgestellt werden sollten, war ein Meisterstück der Modellbaukunst, wie Neri bei wiederholten Gelegenheiten betonte.
Die erhaltenen Fotos zeugen von der Präzision der Modellbauer, die auch Konstruktionen aus Holz und Gips verwendeten und für jedes Modell mehrere Wochen an der Arbeit waren. Gerade diese Modelle können als der Höhepunkt einer wissenschaftlichen Aufbereitung im Bereich der Tragwerksplanung von großen Gebäuden gelten, die die „Schule von Danusso“ im Laufe von etwa drei Jahrzehnten entwickelte. Sei es wegen der schieren Anzahl oder wegen der Bandbreite der untersuchten Fragestellungen – von Analysen zur Materialelastizität, zu denen auch Bruchtests gehörten, und Versuchsreihen im Windkanal bis hin zur Berechnung von seismischen Szenarien –, es war diese Vielseitigkeit, die den Ruf des Instituts begründete.
Zugleich markiert die Modell-Serie für die Kathedrale von San Francisco das beginnende Ende einer Ära, die unbestrittene Qualität der analogen Modelle sollte schon bald ande­ren Untersuchungsmethoden weichen. Beim kalifornischen Projekt entschied man sich für ein begleitendes Gutachten, wie es Ove Arup wenige Jahre zuvor bei der statischen Prüfung des Opernhauses in Sydney vorgemacht hatte. Die Expertise beruhte auf der FEM-Methode, einem numerischen Verfahren auf der Basis elektronischer Datenverarbeitung. Die Nutzung dieses Verfahrens mündete in einen unumkehrbaren Prozess mit erheblichen Konsequenzen für die Tragwerksplanung. Das physische Prüfmodell verlor gegenüber der virtuellen Darstellung rasch an Relevanz.
Nervi selbst war zutiefst beeindruckt von der an der Universität Berkeley erstellten Expertise. Ohnehin zeigte er sich gegenüber Neuerungen, die zu weiterführenden Erkenntnissen über sein Lieblingsmaterial Ferrozement führten, stets aufgeschlossen. Es wurde hier ein radikales Umdenken in der Betrachtungsweise von statischen Problemen eingeläutet, es zeichnete sich das Ende einer Epoche ab – und in gewissem Sinn auch die Götterdämmerung einer Generation von genialen Konstrukteuren, zu denen Nervi zählte.
Der Übergang zum virtuellen Modell bedeutete das Abrücken von einem über das Handwerkliche vermittelten Zugriff, der in Nervis Modellen so präsent ist. Es ist ein Zugang, der auf die fassbare Materialität setzt. Am I.S.M.E.S. hatte Nervi genau das gefunden: eine Zusammenarbeit auf der Grundlage handwerklichen Könnens, mit dessen Hilfe sich seine Werke in kleinem Maßstab reproduzieren ließen. Gedankliche Überschneidungen mit jenen spezialisierten Handwerkern, die Nervi auf seinen Baustellen zu beschäftigen pflegte, sind sicherlich nicht zufällig. Ungeachtet der unbestrittenen wissenschaftlichen Grundlagen war das Besondere der Arbeit am Institut die Meisterschaft, mit der man die Schwierigkeit der hohen Anzahl komplexer Variablen zu beherrschen verstand. 
Aus den erhaltenen Dokumenten – Berechnungen, Korrespondenz und leider nur sehr wenigen Modellen (zwei Modelle im Maßstab 1:36,89 und 1:100 der Kathedrale in San Francisco und das aerodynamische Modell im Maßstab 1:100 vom Cultural Center in Norfolk) – lässt sich herauslesen, in welchem Maß die Suche nach geeigneten Mitteln zum Alltag gehörte, um die Realität des Testlabors mit dem heiligen Gesetz der Ähnlichkeit in Einklang zu bringen: die Vereinfachung eines Knotenpunkts, die Wahl einer besonderen Materialmischung für den Modellbau, die akribische Überprüfung der Ergebnisse. Es handelt sich also zweifellos um eine Wissenschaft, aber eine, die Intuition und empirischen Erfindungsgeist mit einschließt – etwas, dass man sonst auch Kunst nennt.
Fakten
Architekten Pier Luigi Nervi (1891–1979)
aus Bauwelt 19.2010

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