Bauwelt

100 eiserne Mahner

Landart von Antony Gormley in den Vorarlberger Alpen

Text: Meister-Klaiber, Dagmar, Ulm

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Foto: Markus Tretter

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100 eiserne Mahner

Landart von Antony Gormley in den Vorarlberger Alpen

Text: Meister-Klaiber, Dagmar, Ulm

Längst hat sich Österreichs westlichstes Bundesland als Architektur-Reiseziel etabliert. Jetzt gibt’s zwischen Bregenz und Lech noch was obendrauf: Zur Werk- und Baukunst im Tal ist ein Kunstwerk in den Bergen hinzugekommen.
Mitten im Hochgebirge konnte der britische Künstler Antony Gormley getreu seinem Prinzip „Warum et­was Gewöhnliches tun, wenn man auch etwas Außergewöhnliches tun kann“ mit der Installation „Horizon Field“ eines der größten und spektakulärsten Landart-Projekte verwirklichen. Ebenso subtil wie monu­mental hat er 100 lebensgroße Körper aus massivem Gusseisen, Männer nach dem Abbild ihres Schöpfers, über ein Gebiet von 150 Quadratkilometern in den Vorarlberger Alpen verteilt. Sie stehen alle auf exakt 2039 Metern über dem Meeresspiegel, oberhalb der Baumgrenze, wo Kulturland in Naturland übergeht; wo es unwegsam wird und die Murmeltiere in Wäch­terhaltung vor ihrem Bau sitzen. Eine ähnliche Funktion scheint den Figuren zugedacht, die wie Hüter einer Landschaft stramm auf ihrem Posten stehen. Gemeinsam bilden sie eine fiktive Höhenlinie und ein gedachtes horizontales Feld, das die Begrenzung der Zivilisationszonen symbolisiert. Die Figuren, alle auf gleicher Augenhöhe, jedoch in unterschiedlichem Abstand zueinander, sind einander nie zugewandt, obwohl jede von ihrem Standort aus den einen oder anderen Kollegen sehen könnte. Die Körper stehen wie einsame Mahnpfähle in der bewegten Landschaft, sie schaffen Momente des Innehaltens, der Stille und Kontemplation.
 
Um nichts Geringeres als das „Nachdenken über die Rolle der Menschheit in der Evolution des Lebens auf diesem Planeten“ geht es Antony Gormley mit dieser Installation, die dazu anregen soll, „die Verbundenheit zwischen dem sozialen und geologischen Raum“ zu würdigen. Ob die Figuren Reflexionen dieser Art in der erhofften Tiefe bei Wanderern und Skifahrern auslösen, ob Kunst überhaupt Verantwortungsgefühl für die Natur fördern kann? In jedem Fall erzeugt das Wechselspiel zwischen Skulpturen und alpinem Raum Assoziationen und Impressionen von intensiver Qualität. Kunst und Hochgebirge bieten eine ebenso ungewöhnliche wie anstrengende Schule der Wahrnehmung – und Erkenntnisgewinn für den, der sich einlässt auf das Suchen, Finden, Sehen, Fühlen, Messen und Entdecken. Wer Horizon Field erleben möchte, kommt also nicht umhin, Bergschuhe anzuziehen und sich der Herausforderungvon Alpenwelt und Kunst zu stellen. Und ist man in dieses Beziehungsfeld von Wahrnehmung und Vorstellungskraft erst einmal eingetreten, erliegt man wie ein manischer Sammler der Faszination dieser ganz speziellen Schatzsuche.
 
Wie verändert sich der Ort durch die Gegenwart
der Körper?

Es ist nicht einfach, die Körper in der Gebirgslandschaft auszumachen. Obwohl alle Figuren gleich sind, sieht jede anders aus. Topografie, Licht, Wetter, Standort und Perspektive erzeugen unterschiedliche Erscheinungsformen. Mal sind sie ein Strich
in übermächtiger Landschaft, mal stehen sie mutig exponiert am Felsvorsprung, mal versteckt zwischen Geröll und Matten, mal forsch gegen den Hang gestemmt oder mächtig erhaben am Horizont, und dannund wann nehmen sie chamäleongleich die Farbe ihrer Umgebung an. Aufrecht und soldatisch akkurat stehen sie da, nackt, wie Gormley sie schuf, den Blick stoisch in die Ferne gerichtet, die Gesichtszüge reduziert, die Haut changierend rostig und rau. Noppen auf Brust, Rücken und Gesäß stehen wie Saugnäpfe vom Körper des eisernen Mannes ab und geben ihn als Serienguss zu erkennen.
 
Antony Gormley (Jahrgang 1950) ist für spektakuläre Projekte in archetypischen Natur- und Stadt­räumen bekannt. Er nennt solche Projekte Feldversuche („I love this word“). Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt er sich mit dem menschlichen Körper als Ort von Erinnerung und Transformation. Planung und Vorbereitung der Vorarlberger Landschaftsinstallation nahmen fünf Jahre in Anspruch. Ursprünglich sollte Horizon Field bereits 2009 zeitgleich mit seiner Skulpturenausstellung im Kunsthaus Bregenz zu sehen sein (Bauwelt 30.09). Doch allerlei Einsprüche stellten die Installation, die Fragen über den Einklang von Mensch und Natur aufwerfen will, selbst in Frage, bis sämtliche Interessen von Naturschüt­zern, Jägern, Bauern, Liftbetreibern und Grundbesitzern befriedigt werden konnten.
 
Für Gormley ist die Installation nicht vollendet, sondern der Beginn einesExperiments. Gelingt der In­tegrationsprozess, oder bleiben die Figuren Fremde? Entsteht ein Dialog der Akteure, oder verharren sie als stumme Zeugen? Wie verändert sich der Ort durch die Gegenwart der Körper? Werden sie assimiliert, oder wehrt sich die Natur? Fragen, die Zeit und Raum in den nächsten zwei Jahren beantworten werden.Ob ein Beziehungsfeld zwischen Körper und Geist entsteht und Vorstellungskraft aktiviert wird, wie es dem Künstler vorschwebt, werden die Kunstsucher und -entdecker sagen können, wenn sie nach einem anstrengenden Balanceakt zwischen Natur und Kultur mit vielleicht beseelter Miene ins Tal hinabsteigen und dabei noch über Sein und Bewusstsein philosophieren.

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