Bauwelt

Ich bin Funktionalistin

Das Lebenswerk von Denise Scott Brown wird in einer großen Ausstellung im Architekturzentrum Wien gefeiert. Ein Gespräch über Stadt und Wildnis, Architektinnen, Manierismus und ihre joint creativity mit Robert Venturi

Text: Novotny, Maik, Wien

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    Denise Scott Brown vor der Skyline von Las Vegas, 1972. Foto: Robert Venturi

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    Denise Scott Brown vor der Skyline von Las Vegas, 1972. Foto: Robert Venturi

Ich bin Funktionalistin

Das Lebenswerk von Denise Scott Brown wird in einer großen Ausstellung im Architekturzentrum Wien gefeiert. Ein Gespräch über Stadt und Wildnis, Architektinnen, Manierismus und ihre joint creativity mit Robert Venturi

Text: Novotny, Maik, Wien

In Ihrer Videobotschaft zur Eröffnung der Ausstellung “Downtown Denise Scott Brown” in Wien sagten Sie, Sie wären sehr zufrieden damit, in Form einer Stadt präsentiert zu werden. Inwiefern ist das Urbane ein Abbild Ihres Lebens und Schaffens?
Ich hätte stattdessen auch die Wildnis nennen können. Ich wurde im heutigen Sambia geboren und wuchs in Johannesburg auf. Im südafrikanischen Veldt, in der Wildnis. Johannesburg war sehr urban und sehr divers: amerikanische Ingenieure, schottische Buchhalter, indische Einzelhändler, osteuropäische Juden, Libanesen. Und ein wildes Partyleben. Meine frühen Erinnerungen sind europäisch und afrikanisch: Meine Familie waren lettische Juden aus Riga. Meine Großmutter war mit nach Südafrika emigriert, und ich erinnere mich, wie sie in den 30er Jahren am Kurzwellenradio saß und Hitlerreden hörte – er brüllte auf Deutsch, und sie rief auf Englisch „Lügner! Lügner!“
Inwiefern hat Ihre Jugend in Afrika Ihre spätere Arbeit beeinflusst?
Es gibt zwei Fotos von meiner Großmutter: Eines um 1900, da war sie ein kluges und elegantes Mädchen in Riga. Auf dem nächsten sitzt sie in Afrika vor einem offenen Feuer und einem dreibeinigen Kochtopf. Ein großer Bruch in ihrer Biografie – und ich habe ähnliche Brüche erlebt. Wir lebten in einem sehr eleganten, modernen Haus. Als Kind war das Flachdach mein Spielplatz, und ich kletterte schlanke Stahlstützen empor. Ich habe gern in der Wildnis gecampt, doch genauso liebe ich Las Vegas und die Stadt.
War Ihre Feldforschung in den 60er Jahren, die in Learning from Las Vegas mündete, ein Echo der Exkursionen in die afrikanische Wildnis?
An den Rändern afrikanischer Städte gibt es eine Vermischung mit der ländlichen Kultur – eine Art Collage. Man nennt das shack chic, und ich habe es immer bewundert. Das hat meinen „afrikanischen Blick“ auf Las Vegas geprägt – das kreative Reparieren und Neu-Zusammenstellen, mit Unternehmergeist und Spaß.
Das heißt, keine Unterscheidung zwischen Hochkultur und Alltagskultur zu machen und alles prinzipiell als etwas Interessantes an­zusehen?
Es gibt Unterschiede und Kontraste, und ich liebe es, wenn diese zusammenkommen. Ich bin nicht so sicher, ob man sie als Hoch- und Alltagskultur bezeichnen sollte. Man sollte ihnen jedenfalls keine unterschiedliche Wertigkeit beimessen.
Es heißt, Sie hätten Las Vegas zuerst entdeckt und dann Robert Venturi darauf aufmerksam gemacht.
Nungut, entdeckt war es schon, bevor ich kam, ich war ja nicht Kolumbus! Meine Eltern waren 1948 dort. Mein Vater liebte Themenparks und war begeistert von Las Vegas und Miami Beach. Diese Begeisterung habe ich geteilt. Ich erinnere mich an Straßenfeste in Johannesburg, voller Neon und Lichter, für mich war das wie ein Märchenland.
Learning from Las Vegas ist das einflussreichste Werk der postmodernen Architekturtheorie. Wie beurteilen Sie die Wirkung des Buches heute?
Learning from Las Vegas kämpfte an zwei Fronten. Eine war, Kommunikation zu einer der Kernfunktionen von Architektur zu machen. Das ist uns gelungen. Die andere ist, darauf hinzuweisen, dass die städtischen Systeme, die Architekten planen, nichts mit den Mustern zu tun haben, die gewisse Einkommensgruppen in unseren Städten glücklich machen. Das ist uns weniger gelungen.
Die Ausstellung in Wien zeigt eine Fülle Ihrer städtebaulichen Projekte und Schriften zum Urbanismus, mit Querbeziehungen zu Jane Jacobs. Haben sich Ihre Wege gekreuzt?
Naja, ich habe mich über Jane Jacobs eher lustig gemacht. Sie verstrickte sich in Nettigkeiten und Niedlichkeiten: Little Italy zum Beispiel. Das ist auch in Ordnung, aber es gibt so viel mehr in der Welt. Als wir damit begannen, uns Las Vegas anzusehen, hat Jane Jacobs das komplett ignoriert.
Herbert J. Gans, ein deutscher Soziologe, der in die USA migriert ist und in Chicago lehrte, analysierte damals als „teilnehmender Beobachter“ den Suburb Levittown. Viele fragten ihn, was er denn ausgerechnet in den Vororten der Mittelklasse zu suchen habe. Für mich war er ein hochinteressanter Soziologe, und er war unglaublich eifersüchtig auf Jane Jacobs!
Dennoch gibt es Parallelen zwischen Ihnen, was die Aufmerksamkeit auf den öffentlichen Raum betrifft.
Gans sagte: „Man kann es öffentlich nennen, so viel man will, aber öffentlich ist ein Raum erst dann, wenn die Öffentlichkeit ihn benutzt.“ Wie findet man heraus, was die Öffentlichkeit will? Ich habe viel mit Soziologen gearbeitet, und sie haben mich gelehrt, skeptisch gegenüber jeder Art von naivem Do-Goodism zu sein. Die sozialen Ideen der europäischen Planer funktionierten in den USA nicht. In Europa wohnten alle sozialen Schichten in denselben Siedlungen, in Amerika nur die Reichen. Die Armen lebten in den Slums.
Ihr Rat an die Architekten ist also, dass sie lernen müssen zu verstehen, wie eine Stadt
funktioniert – und dass nicht alle Städte gleich funktionieren?
Manche tun das durchaus. Es bilden sich im­-mer Aktivitäts- und Besiedelungsmuster heraus, die mit den verfügbaren Transportmitteln der jeweiligen Zeit zu tun haben. Ein Esel auf einem Hügel ergibt Siena. Die Pfade von Kühen erzeugten Boston. Sich kreuzende Straßen auf felsigem Untergrund ergeben einen Ort, an dem Leute mit Geld hoch bauen können und wollen: New York. Ich folge diesen Mustern und kann Menschen etwas über ihre eigene Stadt erzählen und bekomme dann oft die Frage gestellt: „Wie können Sie das wissen?“ Es geht darum, Verknüpfungen herzustellen – linkage.
Gibt es unter Ihren Bauten Beispiele dafür?
Unseren Verwaltungskomplex Conseil Général in Toulouse orientierten wir an einer neuen Diagonale – später fanden wir heraus, dass es genau dort früher schon eine Straßenverbindung gegeben hatte. 1996 bauten wir die La-Jolla-Erweiterung des Museum of Contemporary Art in San Diego. Wir achteten darauf, einen Treffpunkt und eine Verbindung zur Hauptstraße zu etablieren. Jetzt hat das Museum die New Yorker Architektin Annabelle Selldorf mit der nächsten Erweiterung beauftragt, und anstatt unseren Treffpunkt zu verwenden, macht sie einen neuen Eingang – das wird das ganze Umfeld ruinieren. Aber das erkennt sie nicht.
Ich bin Funktionalistin. Aber was ist funktional? Es geht darum, dass das Schlafzimmer etwas mit dem Bad zu tun hat. Aber was passiert vor der Haustür, und was passiert zwischen der Haustür und China? Es ist linkage, und die Architekten haben keine Ahnung davon.
Dass Sie sich als Funktionalistin bezeichnen, dürfte manche überraschen.
Ich glaube an die Neue Sachlichkeit und ihren klaren und objektiven Blick, der sagt: „etwas Glas an dieser Stelle wäre nett, aber das wird nicht funktionieren, also lassen wir es weg, auch wenn das Gebäude dadurch hässlicher wird.“
In den Worten von Louis Kahn: „Man hasst es und hasst es, und dann liebt man es, weil es so ist, wie es sein muss.“
Ihre Arbeit ist immer wieder mit dem Label der Postmoderne versehen worden. Sie und Robert Venturi bevorzugten den Begriff des Manierismus. Können Sie das erläutern?
Ich hatte schon in den 50er Jahren viel über Manierismus gelernt. Die Smithsons erkannten eine interessante Verbindung zwischen dem frühen Funktionalismus und dem Manierismus: Es ging darum, die Regeln zu brechen. Und das faszinierte mich. Bob hatte Berührungspunkte damit, als er in Rom die Bauten von Armando Brasini entdeckte, einem funktionalen Manieristen des italienischen Faschismus. Als er in die USA zurückkehrte, begann er, darüber nachzuforschen.
Bei der National Gallery in London brachten wir manieristische Ideen ein, zu denen uns auch die Smithsons angeregt hatten. Warum nicht die Regeln brechen – erst recht, wenn die Regeln den Engländern gehören!
Ihr Arbeitsverhältnis zu Robert Venturi bezeichnen sie als joint creativity. Wie hat das in der Praxis funktioniert? Saßen Sie sich am Schreibtisch gegenüber?
Bei den meisten unserer Bauten hatten Bob und ich jeweils eine Rolle, und es ist schwer zu bestimmen, wo der eine in seiner Rolle anfängt und der andere aufhört. Aber oft kam das erste Konzept, das sich mit den Beziehungen nach außen und der Organisation auseinandersetzte, von mir. Die Teile, die jedem sofort auffielen, kamen von Bob. Als wir uns begegneten, war Bob von den Architekten gelangweilt. Ich war damals vor allem mit Soziologen befreundet, deren Denkweise viel interessanter war als die der Architekten. Bob war genau wie sie. Und ich war eine Ideenquelle für ihn. Wir arbeiteten von Anfang an eng zusammen, lange bevor wir 1967 heirateten und 1969 Büropartner wurden. Es hieß immer: „Ach, Denise hat mit Komplexität und Widerspruch in der Architektur nichts zu tun und nicht mit dem Vanna Venturi House“. Aber das stimmt nicht. Wir haben damals in seinem Büro heftig über den Entwurf debattiert.
1989 publizierten Sie ihren Essay „Room at the Top” über den Sexismus in der Architektur. Hat sich die Situation in den letzten dreißig Jahren verändert?
Als ich studierte, setzte ich immer meinen ganzen Namen unter die Zeichnungen, damit jeder sah, dass sie von einer Frau stammten. Und ich war entschlossen, mein Zeichenbrett selbst zu tragen, wie die Männer. Es gab immer Rückschläge. Der Architekt Egon Riss plante Betonbauten für Kohleminen in Schottland, viele von uns Studierenden wollten dort mitarbeiten. Er sagte mir: „Ich kann Sie einstellen, aber ich muss ihnen weniger als den Männern zahlen, sonst machen meine Sekretärinnen einen Aufstand.“ Ich sagte: Nein, danke.
Welchen Rat würden Sie heute den Architektinnen geben?
Viele sagen: „Ach, Denise hat für uns alles erkämpft und alles ist erreicht.“ Ist es aber nicht. Wenn man sich beschwert, heißt es, es gebe so viele andere wichtige Themen. Ich würde auch lieber über andere Themen reden. Aber mein Problem war, dass es immer hieß: „Bestimmt stammen alle Ideen von Venturi. Was sie macht, interessiert uns nicht. Vielleicht macht sie das Interieur, vielleicht organisiert sie das Büro.“ Dass unsere Entwürfe besser wurden, weil wir beide daran arbeiten, darüber nachdachten und dafür verantwortlich waren, das wollten viele nicht hören. Einerseits würde ich lieber über meine Arbeit sprechen als über das Frauenthema – und ich bin froh, dass wir das in diesem Gespräch getan haben. Andererseits verstehe ich heute das Motto der afrikanischen Widerstandsbewegung: Versuche die politische Macht zu erlangen, und alles andere ergibt sich.
2013 forderte Women in Design, eine Gruppe von Studentinnen der Harvard Graduate School of Design, in einer Petition, Ihnen nachträglich den Pritzker-Preis zu verleihen, der 1991 nur
an Robert Venturi gegangen war. Unter den 20.000 Unterzeichnern waren Zaha Hadid, Farshid Moussavi und Robert Venturi selbst. Die Jury weigerte sich, ihre Entscheidung zu korrigieren.

Ich war sehr gerührt von der Petition. Und alle nannten mich Denise, als wären wir eine große Familie! Die jungen Frauen erzählten viel über ihre eigenen Erfahrungen als Frau in der Architektur. Mein Ratschlag an sie war: „Ihr habt diesen Beruf nicht ergriffen, um Preise zu gewinnen. Auch nicht wegen des Geldes, sondern weil ihr etwas daran liebt. Also werdet gut in dem, was euch Spaß macht, das hilft euch dabei, selbstbewusst Forderungen zu stellen.“ Die Petition war zwar nicht erfolgreich, aber sie hat mich auf meine alten Tage sehr glücklich gemacht. Auch wenn ich traurig bin, weil Bob nicht mehr da ist, aber glücklich, weil er so starb, wie er es sich gewünscht hat.
Robert Venturi starb im September 2018 im Alter von 93 Jahren.
Und er wollte das so. Er wusste, dass die nächsten Wochen nicht gut geworden wären. Er wollte auch nicht mehr essen. Ich sagte: „Du musst doch essen, um am Leben zu bleiben.“ Er fragte nur, sehr klar und entschlossen: „Warum?“ Er war sehr dünn geworden. Ich sagte ihm, dass er ein sehr gutaussehender Mann sei. Er antwortete: „Ich bin ein sehr, sehr alter Mann.“ Und das waren seine letzten Worte.
Wenn Sie auf Ihr Lebenswerk zurückschauen, das in der Ausstellung aufgefächert wird: Haben Sie das Gefühl, dass sich das eine aus dem anderen entwickelt hat? Dass alles Sinn ergibt?
Absolut, ja. Als ich von Südafrika nach England kam, fühlte ich mich sehr verloren. Ich brauchte Struktur in meinem Leben. Wenn ich jetzt zurückschaue, war alles, was danach kam, logisch. Ich hätte mir gar keine Sorgen machen müssen. Ich bin sehr glücklich, weil vieles von dem, was ich tat, etwas bewirkt hat. Heute hat jede Architekturschule eine Forschungsabteilung. Man­-che sind zwar mies, aber sie haben eine – und ich habe das eingeführt. Und ich wusste, wie sie zum kreativen Werkzeug werden können. Ich wusste, wie es funktioniert.

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