Mies und Saarinen in der Southside
Die Downtown von Chicago ist das Mekka des Architekturtourismus. In die berüchtigte South Side verirrt sich kaum jemand, um Architektur zu sehen. Doch es lohnt sich, meint Fotograf Lee Bey.
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Mies und Saarinen in der Southside
Die Downtown von Chicago ist das Mekka des Architekturtourismus. In die berüchtigte South Side verirrt sich kaum jemand, um Architektur zu sehen. Doch es lohnt sich, meint Fotograf Lee Bey.
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Ihre Ausstellung „Chicago: A Southern Exposure“ läuft als Satellit der Architekturbiennale, einige Kilometer südlich der Downtown im DuSable Museum. Wie kamen Sie auf die Idee, die Architektur der South Side zu dokumentieren?
Lee Bey Ich wurde auf der South Side geboren und lebe noch immer hier. Ich möchte mit meinen Fotos dem gängigen Narrativ über diesen Teil Chicagos etwas Neues hinzufügen. Die South Side steht für Kriminalität, auf nationaler und internationaler Ebene, sogar der „Spiegel“ hat darüber berichtet. Viele Leute kommen hierher, um ebenfalls darüber zu berichten oder sich umzusehen, und sie sehen nur das Negative: zerstörte Häuser, Verfall, Abriss. Das gibt es alles. Aber es gibt auch noch etwas Anderes.
„Kriegsgebiet“ und „Meile der Vergessenen“ nennt der Spiegel die South Side. Auf Ihren Fotos scheint die Sonne, die Fassaden sind frisch renoviert.
Wenn man sich die Fotos ansieht, die in den Sozialen Medien von der South Side gepostet werden, dann sind es fast nur leer stehende Häuser. Oft erkenne ich die Straße wieder, in dem das Haus steht und ich weiß: Es gibt im Umkreis von fünf Blocks nur dieses eine unbewohnte Haus und das wird dann fotografiert. Das vorherrschende Bild ist bequem, die Leute meinen alles zu wissen über schwarze Nachbarschaften. Es gibt in Chicago und in anderen amerikanischen Städten diese Haltung: Wenn die weiße Bevölkerung aus einem Viertel wegzieht, dann ist es verlassen – und das, obwohl andere Bevölkerungsschichten zuziehen. Das trägt dazu bei, dass diese Gebäude vergessen werden, außer von denen, die dort leben und sie nutzen.
Wie haben Sie die Gebäude ausgewählt?
Viele Gebäude, die ich fotografiert habe, sind Gebäude, in denen ich gearbeitet habe, die ich mag oder deren Entstehungsprozess ich verfolgt habe. Da ist zum Beispiel meine alte High School. Die meisten Chicagoer kennen das Gebäude, weil man es vom Skyway aus sieht, wenn man die Stadt Richtung Osten nach Indiana verlässt. Die wenigsten wissen, dass es die zweitgrößte Schule Chicagos ist, ein opulentes Art-Deco-Gebäude, das sich über zwei Blocks erstreckt. Es wurde 1941 von dem damaligen Chefarchitekten Chicagos für öffentliche Schulen erbaut und erst kürzlich renoviert.
Der IIT-Campus von Mies ist jedem Architekten ein Begriff, aber nicht alle wissen, dass er in Bronzeville in der South Side gebaut wurde: eine moderne Insel ohne Bezug zur Umgebung.
Dort steht auch Mies’ einziger Kirchenbau, die „God Box“, die habe ich auch fotografiert. Oder nehmen Sie den Eero Saarinen auf einem ande-ren Uni-Campus der South Side, der University of Chicago. Ich mochte dieses Gebäude immer. Als ich kürzlich eine TV-Dokumentation über das Werk Saarinens gesehen habe, kam es nicht darin vor, und ich habe mich gefragt, warum es eigentlich ignoriert wird, obwohl es in den letzten zehn Jahren vorbildlich renoviert wurde. Es ist ein zeitloses Gebäude, 1959 gebaut, hätte aber auch von 2009 sein können. Obwohl sich die Stadt Chicago mit ihrem architektonischen Erbe brüstet, wird dieses Gebäude nie erwähnt. Ich wollte ihm die Anerkennung geben, die es verdient.
Woran liegt es, dass diese Architekturen nicht gewürdigt werden?
Im Fall von Saarinen ist das wohl eher Zufall, weil andere gute Gebäude auf dem Campus stehen und viele sich für die neogotische Architektur und die beiden Helmut-Jahn-Gebäude dort interessieren. Insgesamt hat das mit der beschriebenen Ignoranz zu tun. Es ist ein Armutszeugnis, dass eine Stadt wie Chicago ihre architektonischen Perlen ignoriert, nur weil sie südlich von Downtown stehen.
Ihre Bilder vermitteln die Hoffnung, dass sich Nachbarschaften der South Side stabilisieren und aus sich heraus entwickeln könnten.
Im Fall von Saarinen ist das wohl eher Zufall, weil andere gute Gebäude auf dem Campus stehen und viele sich für die neogotische Architektur und die beiden Helmut-Jahn-Gebäude dort interessieren. Insgesamt hat das mit der beschriebenen Ignoranz zu tun. Es ist ein Armutszeugnis, dass eine Stadt wie Chicago ihre architektonischen Perlen ignoriert, nur weil sie südlich von Downtown stehen.
Ihre Bilder vermitteln die Hoffnung, dass sich Nachbarschaften der South Side stabilisieren und aus sich heraus entwickeln könnten.
Es ist bereits ein neuer Prozess in Gang gekommen: Leute sehen die South Side als einen Ort, an dem vieles möglich ist. Gebäude wie die Rosenwald Apartments tragen dazu bei: ein Wohnkomplex aus den Zwanzigern, Nat King Cole und Quincy Jones sind dort aufgewachsen. Der Komplex stand leer und war in schlechtem Zustand. Vor einem Jahr wurde er renoviert und ist kaum wiederzuerkennen. Dieses Beispiel zeigt: Das ist kein umkämpftes Grenzgebiet, sondern eine Nachbarschaft. Leute arbeiten und leben hier. Das ist kein Ort, der erobert werden muss, aber er braucht Investitionen. Doch wenn die South Side aufgewertet wird, wirft das natürlich Fragen auf: Wird das für die jetzigen Bewohner gemacht oder für die Newcomer?
Wurden die Rosenwald Apartments mit öffentlichen oder privaten Geldern renoviert?
Das war eine Mischfinanzierung. Es ist eine große Wohnanlage, die sich über vier Stadtblöcke erstreckt mit einem Hof in der Mitte. Sie sollte abgerissen werden, aber dann konnte doch noch eine Finanzierung aufgestellt werden.
Konnten die Mieter bleiben?
Da die Wohnungen über zehn Jahre leer standen, gibt es kaum Mieter, die zurückkehren werden. Aber die Wohnungen werden an Haushalte mit geringem Einkommen vermietet, viele Familien und Senioren sind dabei. Es sind nicht die selben, aber die gleiche Klientel.
Da die Wohnungen über zehn Jahre leer standen, gibt es kaum Mieter, die zurückkehren werden. Aber die Wohnungen werden an Haushalte mit geringem Einkommen vermietet, viele Familien und Senioren sind dabei. Es sind nicht die selben, aber die gleiche Klientel.
Wie haben Sie die Informationen zu den Architekten recherchiert?
Das war nicht schwierig. In einer Stadt wie Chicago kennt jeder die Namen von Architekten. Die Leute sagen: Das ist ein Mies, das ist ein Burnham. So wie man in Deutschland über Fußball redet, spricht man in Chicago über Architektur.
Haben Sie einmal daran gedacht, einen Architekturführer für die South Side zu machen?
Ja, man könnte locker 200 Seiten füllen. Die Ausstellung zeigt nur eine Handvoll Gebäude, aber es gibt noch viel, viel mehr.
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