Ein Wal kann eine Insel sein
Anspruch des Archiprix International ist kein geringerer, als die besten Abschlussarbeiten der Welt zu küren. Die diesjährigen Beiträge reichen von politischen Projekten bis hin zu poetischen Erfindungen.
Text: Nöther, Hanna, Berlin
Ein Wal kann eine Insel sein
Anspruch des Archiprix International ist kein geringerer, als die besten Abschlussarbeiten der Welt zu küren. Die diesjährigen Beiträge reichen von politischen Projekten bis hin zu poetischen Erfindungen.
Text: Nöther, Hanna, Berlin
Anfang Mai verlieh die niederländische Archiprix Foundation in Santiago de Chile ihren Preis für die besten Abschlussarbeiten weltweit: den Archiprix International. In den Niederlanden existiert der Wettbewerb, der auf einer Kooperation aller Architekturschulen des Landes gründet und von der Firma Hunter Douglas gesponsort wird, bereits seit 1979. Er wird alljährlich rege angenommen. Im Jahr 2001 wurde er erstmals international ausgelobt und in Rotterdam verliehen – seitdem lassen alle zwei Jahre hunderte Hochschulen aus der ganzen Welt ihre besten Absolventen einreichen. In diesem Jahr gab es 321 Teilnehmer, darunter sieben deutsche Beiträge. Aus 22 Nominierten wählte die Jury sieben Gewinner. Ein Querschnitt durch die eingereichten Projekte vermittelt den Eindruck einer Generation von Nachwuchsarchitekten, der Hoffnung und Zutrauen entgegengebracht werden kann: Sie sind weltoffen, politisch, kritisch, erfindungsreich und zum Teil ausgesprochen poetisch.
Vor der Prämierung waren alle Projekte online einsehbar. Die Teilnehmer konnten gegenseitig Favoriten wählen. Mit einigen der Verfasser haben die Initiatoren Interviews geführt, darunter Mariano Vilallonga zu seinem Projekt „La Non Trubada“, die Unentdeckte, das er an der Universidad de Europea de Madrid entwickelt hat. Ausgehend vom Mythos einer Atlantis-gleichen, achten Kanareninsel namens San Borondón, die mal auf-, dann wieder abtaucht und dabei ihre Position ändert, stellt er sich einen neun Kilometer langen Wal vor, dessen gebirgiger Rücken für den Zeitraum, in dem er aus dem Meer auftaucht, ein Zuhause für Tiere und Pflanzen bieten könnte. Er entwarf dazu ein viktorianisch anmutendes Wasserfahrzeug als schwimmende Unterkunft für die Wissenschaftler, die dieses Biotop erforschen wollen sowie eine Beobachtungsstation mit Science-Fiction-Anklängen. Zwar ging er leer aus, jedoch verdeutlicht sein Beispiel, dass, wenngleich die Idee einer Suche nach dem Besten, die sich in Archiprix verbirgt, elitär anmutet, der Wettbewerb doch vielmehr dem olympischen Geist verpflichtet ist: Dabeisein ist (fast) alles.
Auch das Projekt von Ena Kukić, mit realem Anknüpfungspunkt, wurde nicht ausgezeichnet, fand aber eine Plattform um in seiner Relevanz diskutiert zu werden. Ihre Abschlussarbeit von der TU Graz behandelt eine Gedenkstätte am Fluchttunnel in Sarajevo. Dieser diente ab Mitte 1993 der Versorgung der Stadt und war die einzige Möglichkeit, die von den Serben belagerten Stadtteile zu verlassen. Durchschnittlich 4000 Menschen passierten den nur 1,5 Meter hohen Tunnel pro Tag. Die Überreste dieses unterirdischen Gangs kann man auch heute noch besuchen. Kukić will den Tunnel der heutigen privatwirtschaftlichen Vermarktung entziehen. Sie macht ihn zu einem Mahnmal, das die Ängste und Beklemmungen hervorruft, die diesem lebenswichtigen und gleichzeitig bedrückenden Raum einst innewohnten – ohne, dass er weiterhin betreten werden kann.
Unter den Preisträgern findet sich das dystopische Projekt „Following up the foregoing“ von Maarten de Haas. Der Absolvent der Rotterdamer Academy of Architecture and Urban Design hat ein riesiges Rechenzentrum entworfen, das er – golden verkleidet – mitten in der Stadt platziert. Damit will er den Internet-Nutzern die Folgen ihres täglichen Konsums „vor die Nase setzen“. Das gigantische Gebäude ist menschenleer, nur an einer Ecke ist Platz für Leben: in der, einem Schneckenhaus gleichen, um einen schäbigen Innenhof gewundenen Wohnung des Hausmeisters. Der dort lebende Eremit ist für das ununterbrochene Funktionieren der im Gebäude aufgestellten Server zuständig. Dabei ist der Verfall, sind die Gebrauchsspuren bereits im Entwurf mitgedacht und de Haas zeigt sie in Form von überlaufenden Regenrinnen oder Rußspuren am Abzug der Heizung: „Die Zeit, die Elemente und die Gebäudenutzung: sie alle haben Spuren an seiner Wohnung hinterlassen. Der Hausmeister schaut auf die Uhr an der Wand. Er seufzt, während er sich von seinem Stuhl erhebt. Es ist Zeit, seine Runde zu machen. Er bahnt sich seinen Weg durch den dunklen, feucht-kalten Korridor, der streng nach Moder und Verfall riecht. Um die schwere Tür mit seiner Schulter aufzustemmen, muss er sein ganzes Gewicht zum Einsatz bringen. Die Neonröhren springen an, während er sich im kalten Licht des Rechenzentrums außer Sichtweite begibt.“
Auch Lesia Topolnyks Abschlussarbeit war den Preisrichtern eine Auszeichnung wert: Sie schlägt vor, die Zentrale der UNO als völkerverbindende Instanz an einen brisanten Ort zu verlegen: auf die Krim. Im Projekt der Absolventin der Amsterdam University of Arts hat das Hauptquartier die Form einer Mauer aus gestapelten Korridoren, in denen sich politische Mit- und Gegenspieler begegnen sollen. Den darin „en passant“ stattfindenden Dialog symbolisiert eine transparente Fassade.
Es ist eine Qualität von Archiprix, dass der Wettbewerb Raum bietet, die Schwerpunktsetzung von Universitäten aus unterschiedlichen Regionen der Welt nebeneinander zu betrachten. Die globalen Trends der vergangenen 18 Jahre lassen sich in der Projektdatenbank nachvollziehen, die unter www.archiprix.org einsehbar ist. Spannend sind sowohl die thematischen Tendenzen, als auch deren Umsetzung in Architektur und die dafür genutzten grafischen Mittel.
In Deutschland hält sich die Beteiligung bislang in Grenzen. Ein Grund dafür könnten sein, dass sich die Hochschulen schwertun, ihre „Besten“ zu benennen. Sie haben nun zwei Jahre, um zu überlegen, wie sie reagieren wollen, wenn 2020 wieder ein Brief von Archiprix ins Haus flattert, der ihrem besten Absolventen die Teilnahme ermöglicht – und den Hochschulen die Chance, sich international einen Namen zu sichern.
Internationaler, eingeladener Studentenwettbewerb
Preis Mohamad Nehleh, Maroun Semaan Faculty of
Engineering and Architecture, Beirut, Libanon
Preis Maarten de Haas, Academy of Architecture and
Urban Design, Rotterdam, Niederlande
Preis Guelba Paiva, Pontifícia Universidade Católica do
Rio de Janeiro, PUC-Rio, Rio de Janeiro, Brasilien
Preis Gary Polk, University of Pennsylvania, Faculty of
Architecture, Pennsylvania, USA
Preis Liran Messer, Stav Dror, Bezalel Academy of Art
and Design, Architecture, Jerusalem, Israel
Preis Lesia Topolnyk, Academy of Architecture Amsterdam, Amsterdam, Niederlande
Preis Sara Pelegrini, Domenico Spagnolo, Politecnico
di Milano, Mailand, Italien
Jury
Francisco Díaz (Chile), Rosetta Elkin (USA), Marta Moreira (Brasilien), Martino Tattara (Italien), Sam Jacoby (GB)
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