Wohnbauten in St. Pölten
Vier Wohnbauten in St. Pölten sehen aus wie Schiffe, die hier vor Anker gegangen sind. Aufbruchstimmung ist angesagt: Die innovative Primärkonstruktion ist im Kern eine billige Parkgarage und erlaubt Qualitäten, die dem gängigen Wohnungsbau abgehen.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
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Die gesamte Erschließung einschließlich der Treppenhäuser
Foto: Lukas Schaller
Die gesamte Erschließung einschließlich der Treppenhäuser
Foto: Lukas Schaller
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... liegt auf der Außenseite der vier Baukörper.
Foto: Lukas Schaller
... liegt auf der Außenseite der vier Baukörper.
Foto: Lukas Schaller
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Für die herausragende räumliche Qualität sorgen die 2,80 Meter breiten Erschließungs- ...
Foto: Lukas Schaller
Für die herausragende räumliche Qualität sorgen die 2,80 Meter breiten Erschließungs- ...
Foto: Lukas Schaller
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... und Balkonzonen vor den Wohnungen.
Foto: Lukas Schaller
... und Balkonzonen vor den Wohnungen.
Foto: Lukas Schaller
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Die Grundstruktur besteht aus einer vorgefertigten Primärkonstruktion aus Stahlbetonstützen und -elementdecken. Die Raumabgrenzung der Wohnungen nach außen werden von vorfabrizierten Holztafeln gebildet.
Foto: Bernhard Weinberger
Die Grundstruktur besteht aus einer vorgefertigten Primärkonstruktion aus Stahlbetonstützen und -elementdecken. Die Raumabgrenzung der Wohnungen nach außen werden von vorfabrizierten Holztafeln gebildet.
Foto: Bernhard Weinberger
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Wichtiger Bestandteil des Parkgaragen-Konstruktionssystems ist der „Delta-Beam“, der hier gerade montiert wird.
Foto: Lukas Schaller
Wichtiger Bestandteil des Parkgaragen-Konstruktionssystems ist der „Delta-Beam“, der hier gerade montiert wird.
Foto: Lukas Schaller
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Die Dachabschlüsse und die Fassaden zeigen die unterschiedlichen Gestaltungshandschriften der beteiligten Büros. Im Bild: das Büro Artec, ...
Foto: Lukas Schaller
Die Dachabschlüsse und die Fassaden zeigen die unterschiedlichen Gestaltungshandschriften der beteiligten Büros. Im Bild: das Büro Artec, ...
Foto: Lukas Schaller
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... und das Büro wimmerundpartner.
Foto: Lukas Schaller
... und das Büro wimmerundpartner.
Foto: Lukas Schaller
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Die Dachgeschosse wurden für Maisonette-Wohnungen genutzt ...
Foto: Lukas Schaller
Die Dachgeschosse wurden für Maisonette-Wohnungen genutzt ...
Foto: Lukas Schaller
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... und beinhalten die größten Wohnungen.
Foto: Lukas Schaller
... und beinhalten die größten Wohnungen.
Foto: Lukas Schaller
Eine Reihe von Details machen die Schiffsmetapher schon von Ferne unübersehbar: da sind die vier schlanken, knapp 80 Meter langen Baukörper mit ihren zurückgezogenen Decks; dann die gelb, weiß und schwarz gesprenkelten Fassaden der ersten beiden Häuser, die an eine mit Wimpeln bestückte Jungfernfahrt denken lassen, und schließlich die durchgehend um die Baukörper verlaufenden Stege für die Erschließung. Das Projekt haben wir bereits im Planungsstadium veröffentlicht – als Teil einer Recherche zu den aktuellen Möglichkeiten, modular und damit auch schneller und effektiver zu bauen (
Bauwelt 28–29.2016). Allerdings fiel das von den Büros Artec und wimmerundpartner für 185 Wohnungen in St. Pölten gewählte Konstruktionssystem von Anfang an aus dem Rahmen. Denn es setzte nicht auf vorgefertigte und aufeinandergestapelte Module in Holzbauweise, sondern auf eine Vereinfachung von Kosten und Bauzeit durch die Zweckentfremdung einer sonst für Parkgaragen eingesetzten Fertigteil-Konstruktion.
Die Verwendung von Industriebauteilen für den Wohnungsbau hat markante Vorläufer. Einige gehören wegen der resultierenden Qualitäten zur europäischen Wohnbaugeschichte der vergangenen Jahrzehnte. Dazu zählen Jean Nouvels legendärer Sozialwohnungsbau Nemausus von 1987 in Nîmes, die Um- und Erweiterungsbauten im sozialen Großwohnungsbau von Lacaton Vassal in Paris und Bordeaux, MVRDVs Silodam-Gebäude im Hafen von Amsterdam und Frei Ottos gestapelte IBA-Baumhäuser im Berliner Tiergartenviertel. Dazu gesellt sich in jüngster Zeit Gramazio Kohlers UMAR-Forschungsgebäude in der Nähe von Zürich (
Bauwelt 14), das mit seiner Plattform-Architektur strukturelle Ähnlichkeiten aufweist, allerdings nur zu einem kleinen Teil der Weiterentwicklung des Wohnungsbaus dient.
Einfacheres Stapeln
Konstruktives Grundmodul ist im niederösterreichischen St. Pölten eine Parkgaragen-Halle mit ihren großzügigen Spannweiten. An die Stelle gestapelter Boxen im Modulbau tritt also hier das Stapeln von Stahlbetondecken. Die Idee, dass sich die einfache Primärkonstruktion von Parkgaragen für den Wohnungsbau sinnvoll zweckentfremden lässt, hat die Architekten schon lange umgetrieben; der Tragwerksplaner Klaus Bollinger gab dann den entscheidenden Tipp auf das Peikko-System. Entwickelt wurde es in Finnland, produziert in diesem Fall in Ungarn. Die Peikko-Garage besteht aus einem deckengleichen Unterzug, dem „Deltabeam“, der mit den üblichen Deckenplattentypen kombiniert werden kann und große Spannweiten bei bescheidenen Deckenhöhen garantiert. Das prädestiniert die äußerst sparsame Konstruktion auch für den Geschosswohnungsbau, vor allem, wenn dieser auf eine Erschließung als Laubengangtypus bei weitgehender Stützenfreiheit im Inneren abzielt. Interessant sind dabei die entwerferischen Konsequenzen. Das System minimiert und erweitert die architektonische Entscheidungsfreiheit zu gleichen Teilen. Sie wird einerseits kleiner, weil die Gestaltung der Fassade vor allem zu einer Frage der gut gestalteten Ausfachung wird. Die dominanten, weit auskragenden Horizontalen sind schon wegen des Brandschutzes gesetzt. Im Inneren allerdings, wo bloß die Schächte fix sind, werden die entwerferischen Möglichkeiten umso größer. Die Wände können aufgestellt und weggenommen werden, wo es passt.
Programmatische Freiheiten
Da die Decken über die ganze Breite durchlaufen, können Raumteile ohne großen finanziellen Mehraufwand prinzipiell auch offenbleiben, als Spielmaterial für die Architektur und für mögliche Gemeinschaftsräume. Eine für den Wohnungsbau unübliche programmatische Freiheit ist die Folge. Eine zweite Besonderheit liegt in der sperrigen Außenform, die sich durch die Stapelung der Plattformen ergibt. Die rohen Baukörper müssen städtebaulich arrangiert werden, daher auch der skulpturale Eindruck von vier über Kopf an einem Kai vertäuten Schiffe. Dieses Arrangement sorgt ganz von selbst für großzügige Hofräume, die heute im Wohnungsbau eine Seltenheit geworden sind.
Das entscheidende Architekturelement sind die komplett auf der Außenseite liegenden Erschließungen mit ihrer außergewöhnlichen Breite von 2,80 Metern. Auf der einen Längsseite dienen sie als Laubengang, auf der anderen als weit über das Übliche hinausgehende Balkonbereiche. Diese vorgelagerten Raumzonen beinhalten die Aufforderung an die Bewohner, den durchgesteckten Wohnraum zu beiden Seiten hin ins Freie auszudehnen und für sich zu nutzen. Bei der Besichtigung im September waren allerdings die Laubengänge noch völlig blank – die Nutzung solcher halböffentlicher Bereiche muss offensichtlich gelernt werden. Ob sich diese Erschließungen zu ähnlich grünen Vorzonen verwandeln wie etwa bei den zurzeit so beliebten „Bosco-Verticale“-Bauten“ eines Stefano Boeri, lässt sich noch nicht vorhersehen. Das mag auch mit einer rechtlichen Grauzone zu tun haben. Die meisten Mieter sind erst vor Kurzem eingezogen, und wie viel Platz des Laubengangs sie für Topfpflanzen, Windräder und anderes Gartenmobiliar verwenden dürfen, konnte mir bei der Besichtigung niemand beantworten. Auf der Balkonseite sieht die Sache allerdings anders aus. Die Aneignung ist längst erfolgt, ob in Form von allseitig umlaufendem Strohgeflecht, wie man es als Sichtschutz von Schrebergärten kennt, oder über liebevoll gestaltete Tragstrukturen, um die sich bereits erste Rosen ranken. Die Fassade ist jedenfalls robust genug für jede Form der Aneignung.
Lernprozess
Die vier Bauten in St. Pölten sind ein erfolgreich absolvierter Prototyp, dem man jetzt weitere Anwendungen und Testfälle wünscht. Zur Eigenschaft eines Prototyps gehört, dass man einige Stellen heute anders planen würde. Beispielsweise die Tiefgarage, auf der die vier Baukörper aufsitzen und die die Logik des Peikko-Systems bis ins Untergeschoss fortsetzt: Sie sind konstruktiv aufwendig und angesichts eines zukunftsgerechten Stellplatzschlüssels eigentlich nicht notwendig; eine konventionelle Gründung wäre billiger. Ein für die Architekten wichtiges Erschließungselement aus der Entwurfsphase – Brücken, die die vier Baukörper im dritten Geschoss miteinander verbunden hätten – war wegen einer veränderten Fluchtweggesetzgebung nicht mehr nötig und wurde aus Kostengründen gestrichen. Schließlich verlangten die über die ganze Breite verlaufenden Träger eine „Beheizung“ wegen der Kältebrücken.
Das aber sind Kleinigkeiten. Wo sonst gibt es bei der heutigen Schottenbauweise mit ihrem Vollwärmeschutz eine Holzelementfassade von solcher Qualität, wie sie hier umgesetzt wurde? Wo sonst gibt es halböffentliche Bereiche dieser Großzügigkeit, die hier quasi als Nebeneffekt der Konstruktion zur Verfügung stehen und sonst nur in homöopathischen Dosen umgesetzt werden? Es spricht alles dafür, das System Parkgarage für den Geschosswohnungsbau ernst zu nehmen und in weiteren Projekten einzusetzen und weiterzuentwickeln.
Fakten
Architekten
SMAQ, Wien: raum & kommunikation – Robert Korab; ARTEC Architekten, wien; wup wimmerundpartner, Wien
Adresse
Maximilianstrasse 74 , St. Pölten
aus
Bauwelt 21.2018
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