Bauwelt

Wohnbauten in Marseille


In den Felsen der Corniche


Text: Gillier, Aurélien, Paris


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    Luc Boegly

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An der Küste der Corniche von Marseille gab es mehrere Therapiebäder aus dem 19. Jahrhundert. Die Bains de Mer Chauds waren eine solche Einrichtung. Das unrentable Bad und ein Lokal wurden abgerissen, um Platz zu schaffen für eine von Jean-Baptiste Pietri entworfene Wohnanlage.
La Maison des Bains de Mer Chauds ist ein weiteres Puzzlestück im heterogenen und komplexen urbanen Gefüge von Marseille. Die Wohnanlage nahe dem Vieux-Port wurde an der Stelle einer früheren kleinen Bade-Heilanstalt erbaut. Die architektonische Sprache nimmt Bezug auf die ephemeren Bauten der Badeorte und entwickelt daraus eine Diktion, die sich der für die Stadt so charakteristischen Atmosphäre – mediterran, volkstümlich, brut und leicht zugleich – verpflichtet weiß.
Die Wurzeln
Zum besseren Verständnis des weitläufigen Geländes zunächst ein Blick auf die historischen und kulturellen Wurzeln sowie auf den urbanen Kontext: Marseille besteht aus vielen Quartieren und bleibt als Stadt der Phokaier seinem Erbe einer komplexen kulturellen und sozialen Geschichte treu, die von der Mischung, aber auch von der Konfrontation der verschiedenen Kulturen und Lebensformen geprägt ist. Der Stadtgrundriss entwickelte sich in Form eines großen Amphitheaters, das sich zwischen Meer und Berge zwängt. Im Süden liegt das Massif des Calanques, im Norden die Gebirgskette Chaîne de l’Estaque. Der heterogenen Architektur, dem radikalen Nebeneinander von ganz unterschiedlichen Typologien – lauschige Stadthäuser und eher dörflich anmutende Badestätten (Bastides populaires) am Meer neben großstädtischen Arealen in Haussmann-Manier oder Mietwohnungsblocks mit einem gemeinsamen Innenhof – verdankt die südfranzöische Metropole ihr besonderes Flair.
 
La Corniche
Mit dem Bau der Corniche wurde 1848 begonnen. Das staatliche Projekt war angeblich initiiert worden, um „die Arbeiter von Marseille in Lohn und Brot zu halten“. Zwischen 1954 und 1968 wurde die Straße erweitert und nach John F. Kennedy umbenannt. Sie führt durch niedrig bebaute Stadtviertel und windet sich entlang der felsigen Ausläufer des Massif des Calanques mit kleinen Taleinschnitten. Neben den einfachen Badestätten reihen sich hier von der Fremdenlegion genutzte Sommerquartiere, kleine Wohnhäuser und bürgerliche Villen aneinander. Napoleon III. prägte die außerhalb der alten Stadtgrenze verlaufende Küstenstraße entscheidend mit: 1852, also kurz nach Baubeginn der Straße, wählte er für sich einen Wohnsitz direkt am Meer; seitdem entwickelte sich dort eine bürgerliche Wohngegend. Gleichzeitig entstanden die bereits erwähnten, ursprünglich nur an Sonn- oder Feiertagen bewohnten Basti­des, jene Sommerfrischen, die Stendhal als „größte Leidenschaft der Marseiller Bürger“ apostrophierte.
Eigenkonstruktionen
Die auf dem kreidehaltigem Boden der schmalen Buchten und hohen Felsen errichteten Dörfer gehen auf Gründungen von Fischern zurück, die im 18. Jahrhundert aus Spanien eingewan­dert waren. An sie erinnert der Name eines Küstenabschnitts (Village des Catalans). Bis heute ist der dortige Hafen von Malmousque voller Bootsstege. Im Laufe der Zeit haben die Bewohner die Bastides mit Veranden und anderen Erweiterun­gen ergänzt. Diese leichten, oft hingebungsvoll gezimmerten Eigenkonstruktionen, die keine Tragwerksplanung und Baugenehmigung kennen, haben eine spezifische urbane Kultur hervorgebracht, mit neuen Domizilen auf kleinen Freiflächen und sogar auf den Dächern. Schon immer lagen diese Som­merlauben und die von Gärten umgebenen gutbürgerlichen Häuser in friedlicher Eintracht nebeneinander. Beide Bevölkerungsgruppen, die Wohlstandsbürger wie die kleinen Leute, pflegen ihr ganz eigenes Verhältnis zum Meer.
Thalassotherapie
Die medizinischen Bäder, ganz besonders die Thalassotherapie, ursprünglich eine englische Modeerscheinung, werden im 19. Jahrhundert auch in Frankreich immer populärer. In Marseille entstehen die ersten Kurbäder an der Corniche, die von der idealen Lage entlang der Küste und vom Klima profitieren. Bereits 1823 wird die erste Badeanstalt erbaut. 1850 entdeckt man eine natürliche Warmwasserquelle bei Roucas Blanc, zwei Jahre später wird hier das große Etablissement Les Bains du Roucas Blanc eröffnet – der Beginn einer ausgeprägten Leidenschaft der Marseiller für die warmen Mineral- und Meerbäder. An der Corniche sprießen Nachfolgebauten zuhauf aus dem Boden, die von allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen frequentiert werden, darunter die bemerkenswerten Bains des Catalans, eine 1860 nach Plänen des Architekten Bordes errichtete Badeanstalt. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts hast sich das Interesse für diese Art therapeutischer Bäder fest etabliert, eine neue Form von Tourismus entsteht.
Unter diesen Vorzeichen werden auch die Bains de Mer Chauds am Ortseingang von Malmousque eingerichtet, unmittelbar neben dem Tal des Auffes, wo die Corniche eine scharfe Kurve macht und etwas ins Landesinnere zurückweicht. Von dem Bau ist nichts geblieben als die Schaufassade an der Straße. Zu beiden Seiten dieser Fassade stehen Geschosswohnungsbau­ten. Man befindet sich direkt oberhalb des kleinen, felsigen Strandes Calanque de Malmousque. Der Blick geht weit auf das offene Meer hinaus, im Vordergrund liegen Frioul, Cap Cavau und das Château d’If, seitlich ist die nördliche Flanke der Bucht von Marseille mit den Hafenanlagen zu sehen.
Die Bains de Mer Chauds boten ebenfalls Thalassotherapie an, zur Einrichtung gehörten ein überdachtes Schwimmbad und mehrere Behandlungsräume. Auf dem Areal befand sich außerdem ein Restaurant mit einer von Pfeilern abgestützten Terrasse zum Meer. Eine Renovierung in den achtziger Jahren machte aus den Gebäuden eine Art Festung mit geschlossenen Mauerfronten. Der Zugang zur Thalassotherapie-Abteilung erfolgte über eine überdachte Treppe ohne Fenster, die die Straßenebene der Corniche mit einem acht Meter tiefer gelegenen offenen Plateau verband, das man als Zwischenniveau auf circa halber Höhe zwischen Küstenstraße und Meer neu eingezogen hatte. Der Bezug zum abfallenden Gelände, zum Meer und der Blick über die weite Bucht gingen fast völlig verloren. Nach immer neuen Umbauten gab man im Jahr 2000 die Badeeinrichtung vollends auf: die Unterhaltskosten waren zu hoch, die Zahl der Kurgäste zu niedrig und die Ausstattung veraltet. Das gesamte Anwesen wurde verkauft.
Für das nur schwer zugängliche und in seiner ausgepräg­ten Eigenheit sperrige Areal erhielt der in Marseille ansässige Architekt Jean-Baptiste Pietri von privaten Bauherren den Auf­trag, zwei voneinander unabhängige Wohnanlagen zu entwerfen, die durch ihre Gestalt und Zuordnung dennoch eine Einheit vermitteln sollen.
Standbein, Spielbein
Für den Architekten war es ein schwieriges Unterfangen, das Areal für das geforderte Programm in den Griff zu bekommen. Nicht nur der starke Höhenunterschied zwischen Corniche und Meer war problematisch, sondern auch die exponierte Lage. Denn man ist den Blicken aus den hohen Wohngebäuden ringsum ausgeliefert. Da behördliche Auflagen die Aussicht der benachbarten Gebäude schützen, war ein Bauen in die Höhe nicht möglich. Außerdem musste der direkte Zugang zum Meer über einen schmalen Weg auch künftig für die Nachbarn gewährleistet sein.
Mit dem Konzept zweier in sich abgeschlossener Häuser, ein kleineres mit drei und ein größeres mit nur zwei Geschossen, konnten die Auftraggeber die großartige Aussicht optimal nutzen. Das Ensemble bietet pro Haus fünf bzw. drei Schlafzimmer, dazu ein großes Studio und ein Schwimmbecken.
Das Kernproblem des Geländes ist zugleich sein größter Vorzug: Indem das Zwischenplateau aus den achtziger Jahren beibehalten wurde, ließ sich der Höhenunterschied von 17 Me­tern gut nutzen. Der Erhalt des neun Meter über dem Meeresspiegel liegenden Zwischenniveaus mit rund 700 Quadratmetern Fläche strukturiert als fester Bezugspunkt die Parzelle. Die zurückhaltende Grundhaltung des Architekten zeigt sich bereits bei seinem Umgang mit der Schaufassade an der Straße, die er in Erinnerung an den früheren Badebetrieb stehen ließ. Sie übernimmt weiterhin die Funktion als Abschluss zur Straße und formuliert das Entree zum Gelände, zusätzlich sind hier eine Garage und Wirtschaftsräume untergebracht. Gleich dahinter schließt eine Außentreppe an, deren Holzstufen nach unten hin allmählich breiter werden. Der Abstieg über mehrere Zwischenpodeste bietet immer neue Ausblicke und Bezüge zur Umgebung, man schaut über die weißen Dachflächen des Hauses, die Küstenlinie der Bucht, die Inseln. Den Besucher erwartet also hinter dem Portal nicht die Intimität der Wohnräume, sondern er tritt in eine „Landschaft“ offener und geschlossener Räume. Die Nähe der Nachbarhäuser ist deutlich spürbar und Teil des Konzepts. Man ist umgeben von den weißen Mauern und blickt hinaus aufs Meer. Erst beim Betreten der Holzplanken des Plateaus richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Felsen unterhalb der Neubauten.
In der Aussicht wohnen
Auf dem Plateau führen zwei unabhängige Eingänge zu den Häusern. Jean-Baptiste Pietri entwarf den Haupttrakt in Form von leicht wirkenden Modulen, die von Sommerhäusern am Strand inspiriert sind. Die Stützkonstruktion der Module ist aus weiß galvanisiertem Stahl. Durch das einfache Aneinanderreihen ergeben sich lang gestreckte Baukörper mit offenen Blickachsen. Die Positionierung entlang der Längsachse der Parzelle orientiert die Fassaden größtenteils Richtung Westen, so dass alle Zimmer einen ungehinderten Ausblick über die Bucht haben. Die Fassaden bestehen aus durchgehend verglasten Schiebetüren, die im geöffneten Zustand den Innenraum nach außen erweitern, der dann nur durch die Horizontlinie begrenzt wird. Doch genauso gut kann sich die Anlage auf sich selbst zurückziehen, durch in die Rahmen montierte Holzläden lässt sich die Umgebung völlig ausblenden.
Segeltuch und Drahtnetz
Küche und Esszimmer des Haupthauses sind in einem separaten baulichen Modul untergebracht, das – von einer Reihe schräg gestellter Stützpfeiler gehalten – über die Kante des Plateaus auskragt. Eine schmale, mit straff gespanntem Segeltuch gedeckte und seitlich durch feinmaschiges Drahtnetz gesicherte Pergola verläuft entlang der Längsseite und mündet in die Zugangstreppe für die tiefer gelegenen Bereiche.
Immer gleiche, geneigte Dächer decken die Baukörper auf dem Plateau ab. Sie halten die vorgeschriebene Traufhöhe ein und bilden eine ganz eigene Silhouette. Das bescheidene Zickzack-Relief der weißen Flächen, das sich zu einem Muster fügt, ist von den benachbarten Wohnungen oder den Häusern oberhalb der Corniche aus ein überraschender Blickfang.
Der Strand ist wie gefordert auch für die Nachbarschaft zugänglich. Der schmale Fußweg wurde, beginnend an der Gasse Impasse de Malmousque, zwischen Stützmauern und Felsen eingelassen. Dem Maison des Bains de Mer Chauds gelingt die Synthese eines Marseiller Lebensstils, jene Idee des Miteinanders und des Teilens von Freiräumen auf engstem Raum, wie sie vor allem bei den Bastides zu erleben ist.



Fakten
Architekten Jean-Baptiste Pietri, Marseille/ Paris
aus Bauwelt 32.2010

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