Die Emanzipierung des Individuums
Eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg widmet sich der britischen Pop Art. Dreh- und Angelpunkt auf architektonischer Seite: Alison und Peter Smithson
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Die Emanzipierung des Individuums
Eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg widmet sich der britischen Pop Art. Dreh- und Angelpunkt auf architektonischer Seite: Alison und Peter Smithson
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
So wie Dada 1916 aus den Schrecken des Ersten Weltkriegs geboren wurde, so ist die britische Pop Art die initiale künstlerische Reflexion des Zweiten Weltkriegs. Das mag nicht explizit die These des Wolfsburger Kunstmuseums sein, jedoch beginnt die dortige große Rückschau zum britischen Beitrag dieser angloamerikanischen Stilrichtung im Jahr 1947. Und genauso wie sich Dada nicht durch seine Auftrittsformen, die Staatsbürgerschaft seiner Protagonisten oder geografisch verorten lässt, so entstand auch die britische Pop Art aus dem Geiste interdisziplinärer wie internationaler Kollaboration.
Prototypisch dafür steht der Schotte mit den italienischen Wurzeln, Eduardo Paolozzi (1924–2005), der 1947 zum Studium in die Hauptstadt der Künste schlechthin, nach Paris, ging. Dort spürte er nicht nur den Surrealisten nach, sondern reanimierte auch deren Technik, die Collage, unter Verwendung bunter amerikanischer Magazinmotive.
Als Ur-Schrei des britischen Pop gilt Paolozzis irritierende Vortragsperformance im Februar 1952 zur konstituierenden Sitzung der multidisziplinären Independent Group (IG) in London. Seine in schneller Folge durch ein Epidiaskop gezogene visuelle Beute aus Collagen, Skizzenbüchern und bunten Titelbildern riss bereits die typischen Themen und ästhetischen Strategien des Pop an: Trivialkultur, Massenmedien, problematische soziale Divergenzen – aber auch Fragen zur modernen Stadt, zum Leben und Wohnen.
Paolozzi traf einen blanken Nerv, denn London litt in den 50er Jahren ökonomisch noch stärker unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs als Deutschland mit seinem dank Marshall-Plan aufkeimenden Wirtschaftswunder. Die Innenstadt rund um die St. Paul’s Cathedral lag in Trümmern, Lebensmittel waren rationiert, Fabriken wie Privathaushalte befeuerten ihre anachronistischen Anlagen und Öfen mit Pech. 1952 ist das Jahr des großen Smog, seine Kunst die kollektive Traumabewältigung. Paolozzis Performance stieß auf geteilte Resonanz. Der Architekturtheoretiker Reyner Banham fand zynische Worte. Andere aus der zwanzig Mitglieder starken Gruppe, so das Architektenpaar Alison Smithson (1928–1993) und Peter Smithson (1923–2003), fühlten sich in ihrem Anliegen bestätigt, die Dogmen einer erstarrten Moderne zu überwinden.
Überlagerung statt Funktionstrennung
Die Smithsons versetzten später der CIAM den Todesstoß. Sie ersetzten die Doktrin der Funktionstrennung durch das vitale, urbane Territorium aus Haus, Straße, Distrikt und Stadt, auch im Kontext des Bestands. Ihre human-pragmatische Methode des As Found arbeitete nicht nur in der visuellen Argumentation mit Montage und Überlagerung. In ihrem Wettbewerbsbeitrag zu Hauptstadt Berlin legten sie 1958 über die alte, respektierte Stadtstruktur neue, mit baulichen Clustern besetzte Fußgängerebenen, die sie mit gigantischen Rolltreppen verbanden und an den ebenerdigen Autoverkehr anschlossen.
In einer der vielen Ausstellungen der IG, 1956 in This is Tomorrow, zeigten die Smithsons ihre mit Paolozzi und anderen konzipierte rohe Installation Patio & Pavilion aus gefundenen, schäbigen Materialien. Die funktionierte als multiples Referenzsystem, vom elementaren menschlichen Behausen über eine sozial prekäre Wirklichkeit bis hin zur post-atomaren Ruine – und wurde heftig kritisiert.
Wohlig bergend hingegen war das biomorphe Raumkonzentrat des House of the Future, das die Smithsons ebenfalls 1956, auf der Ideal Home Exhibition, als 1:1-Modell zeigten. Wie eine Autoausstattung aus passgenauen Teilen legt sich die fließende Raumfolge um einen Patio. Von hier lässt sich der ästhetische Bogen zu den späten 60er Jahren und Archigram schlagen, die mit ihrer Vision technischer Implantate in einer temporären Instant City in Wolfsburg vertreten sind.
Spielerische Bewusstseinserweiterung
Mitglied der ersten Stunde der IG, Chronist und wohl bekanntester Protagonist der britischen Pop Art war Richard Hamilton (1922–2011). Er platzierte 1956, ebenfalls in der Ausstellung This is Tomorrow, sein programmatisches Fun House. Die kleine schiefwinklige Multimedia-Box kann in einer 1987 von Hamilton autorisierten Rekonstruktion in Wolfsburg begangen werden. Das Fun House diente der visuellen, akustischen, taktilen und olfaktorischen Bewusstseinserweiterung, durchaus mit geschmackserzieherischer, vor allem aber mit spielerischer Aufforderung.
Als Cedric Price (1934–2003) ab 1962 zusammen mit der Theatermacherin Joan Littlewood an einem multidisziplinären Kulturhaus arbeitete, variierte er den Namen zu Fun Palace. In Form und Struktur eine große Schiffswerft, in der Theater, Kinos, Restaurants, Ateliers, Säle fortlaufend erstellt, bewegt, neu gruppiert und auseinandergenommen werden können, verdichtete der Fun Palace exemplarisch die gesellschaftlichen Ideale des britischen Pop: die demokratische Erneuerung und die Emanzipierung des Individuums in einer technikgestützten Urbanität.
Im Wolfsburger Parcours sind diese architektonischen Beiträge in eine überbordende Fülle künstlerischer Positionen eingebettet, die auch Musik, Mode, Zeitschriftenkultur oder Film umfassen. Wie sehr sich alle Disziplinen der Screaming Sixties durchdrungen haben, lässt nochmals Michelangelo Antonionis ikonischer Film Blow-Up von 1966 anklingen. Die Anfangssequenz spielt in den urbanen Zwischenräumen des Economist-Cluster, den die Smithsons 1964 in London implantierten.
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