Bauwelt

Ein Archiv namens Afrika

In Togo, Ghana und Benin hat sich eine Gruppe von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Forscherinnen formiert. Ihr Ziel ist die Konservierung und Dokumentation des baulichen Erbes Westafrikas, bevor dieses zwischen den Zahnrädern des Postkolonialismus endgültig verloren geht.

Text: Czaja, Wojciech, Wien

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    Das Hotel de la Paix (Daniel Chenut, 1974) in der togo­lesischen Hauptstadt Lomé ging aus einer Regierungskampagne zur Förderung des Tourismus Anfang der 1970er hervor. Ab den 2000ern zeichnete sich der Niedergang des Hotels ab, bis heute steht es leer.
    Foto: Wojciech Czaja

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    Das Hotel de la Paix (Daniel Chenut, 1974) in der togo­lesischen Hauptstadt Lomé ging aus einer Regierungskampagne zur Förderung des Tourismus Anfang der 1970er hervor. Ab den 2000ern zeichnete sich der Niedergang des Hotels ab, bis heute steht es leer.

    Foto: Wojciech Czaja

Ein Archiv namens Afrika

In Togo, Ghana und Benin hat sich eine Gruppe von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Forscherinnen formiert. Ihr Ziel ist die Konservierung und Dokumentation des baulichen Erbes Westafrikas, bevor dieses zwischen den Zahnrädern des Postkolonialismus endgültig verloren geht.

Text: Czaja, Wojciech, Wien

Der Pilot steht vor dem Hotel, das Steuerungsmodul mit beiden Händen fest im Griff, und wo es anderntags menschenleer und mucksmäuschenstill ist, fliegt nun mit einem flinken Summen die ferngesteuerte Drohne durch die Korridore. Beim Umfliegen des Grundstücks, Luftbilder produzierend und die Kontur der neungeschossigen Gebäudeskulptur scannend, verfliegt sich der Drohnenpilot für wenige Sekunden über militärisches Sperrgebiet. Momente später, mit Blaulicht gewappnet, kommt nach zwei Jahrzehnten Leerstands auf dem Boulevard du Mono wieder hektisches Treiben auf. Die digitalen Aufnahmen müssen unterbrochen werden, ein polizeilicher Befehl, und können erst am nächsten Tag wieder fortgesetzt werden.
„Das Hôtel de la Paix in Lomé“, sagt die zuständige Architektin und Dokumentaristin Dominique Petit-Frère, „ist eines der tollsten Baudenkmäler der westafrikanischen Moderne. Doch nachdem der Hotelbetrieb 2005 eingestellt wurde, verfällt das Gebäude zusehends, und es gibt bis heute leider keine umfassende Dokumentation, die das Haus so gut einfängt, dass das einzigartige architektonische Erbe für die Nachwelt festgehalten wird – selbst für den äußersten Fall, dass das Friedenshotel, Zeitzeuge einer aufstrebenden politischen Unabhängigkeit Togos, eines Tages abgerissen wird.“
Errichtet wurde das Hôtel de la Paix in den Jahren 1972 bis 1974 nach Plänen des französischen Architekten Daniel Chenut. Neben einigen privaten und öffentlichen Bauten in seiner Heimatstadt Nièvre in der Bourgogne widmete er sich mit Leidenschaft der tropischen und subtropischen Architektur Westafrikas, und hier vor allem dem Aufbau der neuen unabhängigen Republiken Niger, Benin, Togo und Burkina Faso. Das von ihm geplante Hôtel de la Paix mit 216 Zimmern, 16 Bungalows, Restaurant, Nachtclub, Festsaal, Swimming-Pool und expressionistischer Fassade aus organisch geformten Betonschotten und bunten Mosaikfliesen mit abstrakten und figurativen Motiven – mit Wölkchen und Pfeilen – gilt bis heute als eines von Chenuts Schlüsselbauwerken.
„Im Gegensatz zu den vielen Gästen, die den damals luxuriösen Hotelbetrieb und den politischen und wirtschaftlichen Aufschwung Togos live miterlebt haben, hege ich keinerlei Nostalgie gegenüber diesem Gebäude“, sagt Petit-Frère, die zwischen New York und Accra, Ghana, pendelt und seit 2018 ihr binationales Studio Limbo Accra betreibt. Der Begriff Limbo im Büronamen ist eine Anspielung auf die aktuelle Stagnation und Halt­­l­osigkeit in vielen westafrikanischen Ländern. „Ich verspüre eher eine Art Hoffnung, dass ich als Vertreterin einer jungen Generation mit neuen Technologien einen sachlichen Blick auf die gebaute Materie werfen und auf diese Weise einen Beitrag zur Pflege und Dokumentation leisten kann.“ Die Daten werden, sobald sie bereinigt und in verwertbaren 3D-Modellen aufbereitet sind, als Open Source zur Verfügung gestellt.
Und Petit-Frère ist bei Weitem nicht die einzige Architektin, Stadtplanerin, Historikerin, Forscherin, Kuratorin, wohlgemerkt allesamt Frauen, die sich am 3500 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Senegal und Nigeria, in diesem zwölf Staaten umfassenden Limbo-Land fehlender Gelder und fehlender politischer Entscheidungen, der Care-Arbeit verschrieben hat. Auch Olufemi Hinson Yovo, Architektin und Universitätsdozentin mit Büros in Cotonou (Benin), Abidjan (Elfenbeinküste) und Paris, hat sich zum Ziel gesetzt, dem Verlust entgegenzuwirken und die vernakuläre Architektur Westafrikas zu retten – oder zumindest rechtzeitig zu dokumentieren. Sie selbst bezeichnet ihre Arbeit als Archiving the Loss.
„Das bauliche Erbe in den Ländern Westafrikas ist eine komplexe Ange­legenheit“, sagt Hinson Yovo, die auf Instagram unter @Cotonou.Archi­tecture verschwindende und bereits verschwundene Schätze dokumentiert. „Erstens handelt es sich bei traditioneller Architektur oftmals um temporäre Bauten, die in den meisten Fällen nicht für die Ewigkeit konzipiert waren und entsprechend kurzlebig sind. Zweitens ist das architek­tonische Erbe aus der deutschen, englischen oder französischen Kolonialzeit politisch und historisch stigmatisiert und in der Bevölkerung, wie man sich vorstellen kann, von geringem Wert.“
Und drittens, so Hinson Yovo, seien die Bauten der Moderne des 20. Jahrhunderts, wie sich am Beispiel des Hôtel de la Paix eindrücklich zeigt, meist in einer so schlechten technischen Beschaffenheit, dass sie den tropischen und subtropischen Klimata mit ihren hohen Temperaturen und Luftfeuchtigkeiten nicht standhalten und mit der Zeit verfallen. „In den Städten, in denen ich tätig bin, wacht man in der Früh auf – und wenn es nicht gerade ein touristisches Interesse am Erhalt oder an einer Revitalisierung gibt, ist schon wieder ein Baudenkmal zerstört. Es ist wie eine Epidemie.“
Auch Nana Biamah-Ofosu, Architektin und Architekturwissenschaftlerin aus Ghana, sieht im allmählichen Verfall westafrikanischer Bauten einen großen kulturellen Verlust. Mit ihrem 2022 in London gegründeten Büro YAA Projects hat sie sich zum Ziel gesetzt, geschriebene Geschichte und ungeschriebene Counter-History sowie die kollektive Kulturintelligenz der westafrikanischen Diaspora zu erforschen. Mit ihren Studierenden der Architectural Association (AA) und Kingston School of Art veranstaltet sie regelmäßig Exkursionen nach Ghana, um direkt vor Ort Untersuchungen zu Nation-Building und zur spätmodernistischen Unabhängigkeitsarchitektur anzustellen.
„Die Datenlage und Bestandserfassung ist mitunter erschreckend“, sagt Biamah-Ofosu. „Im allerersten Schritt geht es also darum, ein Archiv aufzubauen und diese Archivarbeit überhaupt erst einmal als wertvolle Ressource sichtbar zu machen.“ Ihr Forschungsprojekt Tropical Modernism, das sich mit der Unabhängigkeit der ehemaligen europäischen Kolonien in den Jahren zwischen 1957 und 1961 befasst, war bereits auf der Architektur-Biennale in Venedig sowie im Victoria & Albert Museum in London zu sehen. Vor ein paar Monaten schließlich brachte sie ihren Dokumentarfilm „Tropical Modernism. Architecture and Power in West Africa“ heraus, in dem sie die Wechselbeziehungen zwischen Bauen und politischem Aufbruch aufzeigt.
Die Zeit scheint – endlich und viel zu spät – reif für das Thema. Das Museum of Modern Art in New York arbeitet gerade an einer Ausstellung über westafrikanische Unabhängigkeitsarchitektur, die 2026 im MoMA zu sehen sein wird. Auf der kommenden Architektur-Biennale in Venedig, die Anfang Mai eröffnet wird, präsentiert Togo im Squero Castello nun erstmals einen eigenen Länderpavillon, kuratiert von Fabiola Büchele und Jeanne Autran-Edorh in Zusammenarbeit mit Sonia Lawson. Und erst unlängst ging im Palais de Lomé in Togo die dreitägige Konferenz „Rencon­tres Architecturales Africaines de Lomé“ über die Bühne, auf der die in diesem Text vorgestellten Frauen Vorträge hielten und dem Publikum Frage und Antwort standen. Im Vordergrund standen die Themen Konservierung und Transformation.
„Als ich zwölf Jahre alt war, sind meine Eltern beruflich bedingt nach Uganda gezogen, später dann habe ich auch Äthiopien und Tunesien kennengelernt“, sagt Fabiola Büchele, die gemeinsam mit Jeanne Autran-Edorh das transdisziplinäre Duo Studio NEiDA mit Sitz in Berlin und Lomé betreibt. „Die Ignoranz und strukturelle Diskriminierung Afrikas aus europäischer Perspektive heraus habe ich also schon als Kind beobachtet, und der Umgang mit den wirklich vielfältigen Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent hat sich im Wesentlichen bis heute nicht verändert. Der Postkolonialismus ist nach wie vor vorherrschend.“
Aus genau diesen Gründen war es Büchele und Autran-Edorh, die früher als Chefarchitektin und Kreativdirektorin im Studio des Pritzker-Preisträgers Diébédo Francis Kéré tätig waren, ein Anliegen, das reiche Erbe westafrikanischer Architektur sichtbar zu machen – „und zwar nicht in Europa, wo man als eingeladene afrikanische Architektin wieder Dankbarkeit erweisen und stereotype Narrative bedienen muss, sondern genau hier, in Westafrika, in Togo, wo die alten und jungen historischen Architekturen am Kaputtgehen sind und bald in Vergessenheit geraten könnten. Wir wollen mit unserer Konferenz, die nun zum ersten Mal stattgefunden hat, den architektonischen Schatz sichtbar machen und zu einer längst überfälligen mentalen Dekolonialisierung beitragen.“

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