Documenta antiurbana
Unser Autor sah sich bei der diesjährigen Ausgabe des Kasseler Kunstfestes mit einer beunruhigenden Verherrlichung einer phantasierten Vormoderne konfrontiert.
Text: Bernau, Nikolaus, Berlin
Documenta antiurbana
Unser Autor sah sich bei der diesjährigen Ausgabe des Kasseler Kunstfestes mit einer beunruhigenden Verherrlichung einer phantasierten Vormoderne konfrontiert.
Text: Bernau, Nikolaus, Berlin
Dass die Documenta 15 als einer der größten Skandale der neueren deutschen Kulturpolitik in die Geschichte eingehen wird, ist schon lange vor ihrem Ende klar gewesen. Doch die Debatte über die Formen, mit denen Antisemitismus gezeigt oder oberflächlich verborgen wurde, verdeckte fast völlig eine Grundbotschaft dieser Documenta, die keineswegs weniger beunruhigend ist: In wesentlichen Teilen verherrlichen die von den Kuratoren um die indonesische Gruppe Ruangrupa ausgewählten Künstlerkollektive die vorindustrielle, vorglobale, vorkoloniale und antistädtische Welt, propagieren auf gesellschaftliche Homogenität ausgerichtete Idealbilder und wettern gegen „den Westen“.
Wenn westliche Museumskuratoren eine so reizende Bambusarchitektur wie jene des Cafés neben der Documentahalle gebaut hätten, wären sie beschuldigt worden, kolonialzeitliche Klischees über das angeblich ewig landwirtschaftliche und harmonisch debattierende Asien zu bedienen. Hier aber wurde von gemeinsamem Essen lokaler Hersteller als Grundlage für die Findung gemeinsamer Ideen geschwärmt. In den Gemälden von Taring Padi sind Umweltzerstörung, Militär, Brutalität und als „Schweine“-Kapitalismus charakterisierte Ausbeutung fast durchweg mit Images von grauen Großstädten und dreckigen Fabriken verbunden, für ihre Rechte kämpfende Arbeiter und Bäuerinnen dagegen mit lebensvollen Feldern und bunten Dörfern. Dass Südamerika und Ostasien, die so stark von städtischen Problemen und der Wahrnehmung von Chancen der Städte und des Kapitalismus geprägt sind, auf dieser Documenta über den angeblich einigen „Globalen Süden“ fast gar nicht vorkamen, erklärt sich also fast von selbst.
Die Stadt als Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit, Individualismus als Chance? Man musste in die jede Debatte wagenden Installationen von Minderheitenarchiven aus Asien, den Niederlanden oder Algerien sehen, in die Ausstellung der Kunst von Roma oder die Räume der großartigen queeren Gruppe FAFSWAG aus dem Südpazifik, um solche Botschaften zu erleben. Die Naivität, mit der Ruangrupas Idee einer kollektiven „Reisscheune“ und des kollektiven „Lumbung“, des Debattenraums bis zum Finden eines gemeinsamen Endergebnisses, in deutschen Dekolonial-Kreisen akzeptiert wird, erschreckt bei genauerem Hinsehen: Der Riesenvorteil der westlichen Demokratie vor allen anderen gesellschaftlichen Systemen ist, dass sie Widersprüche nicht nur erträgt, sondern auch stehen lassen kann – und die Minderheiten trotzdem schützt.
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