Bauwelt

Kleine Häuser mit Zukunft

Japans Wohnform in bescheidenen, auf engstem Raum stehenden privaten Stadthäusern verändert sich kaum. Die kleinteilige Parzellierung bestimmt auch weiterhin das Bild der Metropolen

Text: Hubert, Daniel

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    Eine der typischen schmalen Wohngassen von Tokio
    Foto: Hubertus Adam

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    Eine der typischen schmalen Wohngassen von Tokio

    Foto: Hubertus Adam

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    Die breiten Verkehrsschneisen sind meist von hoher Bebauung gesäumt, die bei Katastrophen eine Brandbarriere darstellen.
    Fotos: Hubertus Adam

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    Die breiten Verkehrsschneisen sind meist von hoher Bebauung gesäumt, die bei Katastrophen eine Brandbarriere darstellen.

    Fotos: Hubertus Adam

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    Eine typische, sehr freie Struktur klei­ner Wohnhäuser mit dem „Haus in Kyodo“ von Go Hasegawa.
    Lageplan: Go Hasegawa

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    Eine typische, sehr freie Struktur klei­ner Wohnhäuser mit dem „Haus in Kyodo“ von Go Hasegawa.

    Lageplan: Go Hasegawa

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    „Haus in Kyodo“ von Go Hasegawa. Enge verlangt nach solidarischer Nachbarschaft
    Foto: Hubertus Adam

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    „Haus in Kyodo“ von Go Hasegawa. Enge verlangt nach solidarischer Nachbarschaft

    Foto: Hubertus Adam

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    „Tokio retten, indem wir Bauten entwerfen, die wie To­kio sind“ (Sou Fujimoto)
    Modell­foto: Sou Fujimoto Architects

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    „Tokio retten, indem wir Bauten entwerfen, die wie To­kio sind“ (Sou Fujimoto)

    Modell­foto: Sou Fujimoto Architects

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    Für seine „Tokyo Apartments“ hat Sou Fujimoto kleine Häuser überein­ander gestapelt, die vier Wohnungen beherbergen.
    Foto: Hubertus Adam

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    Für seine „Tokyo Apartments“ hat Sou Fujimoto kleine Häuser überein­ander gestapelt, die vier Wohnungen beherbergen.

    Foto: Hubertus Adam

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    Sou Fujimotos Holzhäuser Setonomori mit Edelstahlfassade bei Hiroshima, 2014
    Foto: Iwan Baan

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    Sou Fujimotos Holzhäuser Setonomori mit Edelstahlfassade bei Hiroshima, 2014

    Foto: Iwan Baan

Kleine Häuser mit Zukunft

Japans Wohnform in bescheidenen, auf engstem Raum stehenden privaten Stadthäusern verändert sich kaum. Die kleinteilige Parzellierung bestimmt auch weiterhin das Bild der Metropolen

Text: Hubert, Daniel

In Japan stehen kleine Häuser auch in der Stadt. Es sind schmale Häuser, die sich ein freies Plätzchen neben ihren großen Nachbarn gesucht haben und ihren Bewohnern als Wohnung dienen. Viele sehen auch in europäischen Städten den Bedarf und das Potenzial für solche kleinen Häuser. Das Tokioter Architekturbüro Atelier Bow-Wow nennt diese Häuser „pet architecture“ und versammelt im gleichnamigen Buch vor allem solche, die es sonst nicht auf den Laufsteg schaffen.
Wie Barrie Shelton in seinem Buch „Learning from the Japanese City“ feststellt, waren die ja­panischen Städte bis zur Meji-Periode (1867–1912) von ein- bis zweigeschossigen Gebäuden geprägt, aus denen lediglich Burgen, selten Pagoden und schließlich Türme zur Feuerüberwachung herausragten. Selbst die erstgenannten beschreibt Shelton in ihrer grundsätzlichen Bauweise als horizontal. Die weit auskragenden, übereinander gestapelten Dächer drücken in der Tat nicht die reine Vertikalität aus, wie dies in europäischen Städten durch repräsentative Gebäude geschehen ist.
Entgegen seiner historischen Bautradition ist Tokio mittlerweile in die Vertikale ausgewichen. Allerdings beschränkt sich dieses Ausweichen auf die verschiedenen Subzentren wie Shinjuku, Ikebukuro oder Maronouchi, und dort vor allem auf die Gegend um die Bahnhöfe, deren Nähe ein wichtiger Faktor bei der Bewertung eines Grundstücks ist. Häufig sind auch breite Verkehrsschneisen von hoher Bebauung gesäumt. Sie spielen beim Katastrophenschutz eine wesentliche Rolle, in dem die Straße den Rettungsweg und die hohe Bebauung die Brandbarriere darstellen. Peter Popham hat diese Struktur mit einem Ei verglichen, dessen harte Schale die betonierte, feuersichere Hochhausbebauung und dessen weicher Kern die niedrige, oft noch aus Holzhäusern bestehende Bebauung darstellt.
Jenseits dieser hoch bebauten und breiten Straßenzüge und der Subzentren um die Bahnhöfe erstreckt sich aber das wahre Tokio, bestehend aus größtenteils niedriger, zweigeschossi­ger Bebauung mit engen Gassen, die teilweise keine zwei Meter breit sind. Dieser abrupte Maßstabswechsel von einer Straßenecke zur nächsten gehört zu den eindrücklichsten und eigentümlichsten Stadterlebnissen in Tokio.

Kleine Terrains – kleine Häuser

Tokios Kleinteiligkeit hat zwar historische Ursprünge, beruht aber auch auf einer Reihe planungsrechtlicher Besonderheiten aus jüngerer Zeit, die sich von westlicher Stadtplanung unterscheiden. Uta Hohn schreibt in ihrem Buch über japanische Stadtplanung, diese sei von großer Offenheit geprägt, was sich in einem „Sowohl – als auch“-Denken niederschlage und in der auf „die im Westen üblichen Abgrenzungsdebatten“ verzichtet werde. Die japanische Stadt wie sie sich heute darstelle sei „ganz wesentlich das Ergebnis lange Zeit fehlender oder sehr großzügiger Rahmensetzungen durch eine Flächennutzungsplanung, die dem Bauherrn ein beträchtliches Maß an Gestaltungsfreiheit und Nutzungsrechten einräumt.“
Außerdem hat eine grobkörnige Flächennutzungszonierung die Funktionstrennung wie sie in der Charta von Athen propagiert wurde und in europäischen Städten häufig umgesetzt wurde, in Japan verhindert – ein Umstand, der sich von Vorteil für den Erhalt der typisch japanischen Urbanität erwies, die sich durch hohe Dichte, Kleinteiligkeit und Lebendigkeit auszeichnet.
So glücklich sich die lockeren Vorgaben für die Lebendigkeit der japanischen Stadtstrukturen herausgestellt haben, so sehr waren die Boom-Jahre der Fünfziger und Sechziger und später die Jahre der sogenannten Bubble-Economy für einen rapiden Wandel der japanischen Metropolen verantwortlich. Der große Druck, immer mehr Büroflächen zu schaffen führte, wie in vielen anderen Städten weltweit, zu einem Aushöhlungsprozess, der das Wohnen aus den Innenstädten in die ausufernden Vorstädte verdrängte.
In den achtziger Jahren wurde durch die Liberalisierung des Finanzmarkts und einer Niedrigzins- und Geldmarktpolitik Landbesitz als Vermögenswert noch attraktiver, da der Taxwert bei der Erbschaftssteuer weit unter dem Verkehrswert angesetzt wurde. Die Empfehlung lautete also, Vermögen in Landbesitz umzuwandeln, um den Erben so viel Erbschaftssteuer zu ersparen. In den neunziger Jahren wurden die Bodenrichtwerte für die Immobiliensteuer und die Erbschaftssteuer angehoben, die der Bodenspekulation und dem Überangebot von Büroflächen ein Ende bereiteten. Das Ergebnis waren häufig Grundstücksteilungen, um die Erbschaftssteuern begleichen zu können.
Die hohen Bodenpreise haben im Wohnungsbau allerdings auch dazu geführt, den Zuwachs des Wohnflächenverbrauchs gering zu halten. So haben die Menschen viele Außenkontakte. Waschsalons und Badehäuser sind festes Inventar des Viertels und werden von allen Altersklassen besucht.
Neben diesen historisch begründeten und den ökonomischen Ursachen für kleine Grundstücke und kleine Häuser spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass viele Grundstücke über Generationen hinweg im Besitz der selben Fami­­lie bleiben, die sich mit dem Quartier und dem Grund sehr verbunden fühlt und letztlich ein kleineres Restgrundstück immer der kompletten Aufgabe des Fami­lienbesitzes vorziehen würden. Tokio weist trotz eines extrem kapitalistischen Gesellschaftssystems im Vergleich zu anderen Metropolen ein sehr geringes Maß an Segregation auf.
Trotzdem sind große Projektentwickler daran interessiert, zusammenhängende Grundstücke zu erwerben, um dort Wohnhochhäuser zu realisieren. Sie werben für diese Vorhaben mit dem Hinweis, dass bei gleicher Geschossflächenzahl viel Platz für Freiraum und städtisches Grün entstünde. Außerdem verfügt die Bauindustrie über eine mächtige Lobby, die die Gesetzgebung schon häufig zu ihren Gunsten beeinflussen konnte. Andererseits gibt es mit „Machizukuri“, wörtlich „Stadt gestalten“, ein Instrument, das die Partizipation der Bevölkerung sicherstellt und über die Jahrzehnte mehr und mehr Anerkennung und Verankerung in Planungsprozessen gefunden hat, wenngleich sich der Einfluss von Machizukuri auf Entscheidungen der Mikro­ebene beschränkt. Bei großen, zentral geplan­ten Infrastrukturmaßnahmen spielt Machizukuri keine Rolle.

Maßstäblichkeit

Für den Architekten Sou Fujimoto ist es elementar, der Tendenz zu großmaßstäblichen Eingrif­fen entgegenzusteuern, wie er im Gespräch erklärt: „Mit meinen Gebäuden versuche ich etwas wie Tokio selbst zu schaffen, unabhängig davon, wie die Nachbarschaft aussieht. Denn wenn ein Gebäude selbst Tokio repräsentiert, dann passt es auch nach Tokio. Der Maßstab ist extrem wichtig. Wenn die kleinen alten Häuser durch Gebäude mittlerer Größe ersetzt werden, verliert Tokio seine Maßstäblichkeit. Und das verachte ich. Wir müssen Tokio retten, indem wir Bauten entwerfen, die wie Tokio sind.“
Wie das aussehen kann, hat Fujimoto mit einem Augenzwinkern mit seinen „Tokyo Apartments“ gezeigt. In dem Projekt sind mehrere kleine Häuser übereinander gestapelt. Sie beherbergen insgesamt vier Apartments. Fujimoto sagt: „Bestünde es aus einem großen Volumen, so zerstörte dieses die Maßstäblichkeit von Tokio. Daher entwarf ich mehrere kleine Volumina, die ineinandergreifen.“
Neben der Anpassung an die Maßstäblichkeit greift Fujimoto mit der Verwendung von Blech auf ein in Japan übliches Material zurück und macht sich mit den Dächern der einzelnen Häuser auch die häufige, pagodenhafte Dachstapelung zu Eigen. Ein weiteres, typisches Merkmal wird von Fujimotos Tokyo Apartments zugespitzt: Die Allansichtigkeit japanischer Häuser, die keine Schau- oder Hauptfassade aufweisen. Sie entsteht durch die Positionierung der Häuser mittig auf dem Grundstück, ohne Anschluss an die Nachbarbebauung.
Barrie Shelton schreibt: „Jedes Grundstück, jedes begrenzte Stück Land in einer japanischen Stadt hat ein unsichtbares Zentrum (oku) und ein gewisses Maß an Autonomie, das aus einer höheren Ebene der Nicht-Verbundenheit mit der Umgebung erwächst. So kommt es, dass in Japan eine große Akzeptanz für Introversion und Autonomie eines Grundstücks herrscht. Relativ gesprochen gibt es nicht die selben Ansprüche an harmonische visuelle Kontinuität entlang öffentlicher Fassaden und der geordneten Übergänge zu benachbarten Gebäuden, wie man sie im Westen erwartet. Ohne Sequenz und Verbindung gibt es keine starke Linie, stattdessen zerstreute Flecken die alle meist sehr dicht umgeben von anderen Häusern sind, aber doch isoliert für sich stehen.“
Das Interesse des Architekten Go Hasegawa besteht ebenfalls darin, Gebäude zu entwerfen, die nach Tokio passen. Sein „Haus in Kyodo“ ist ein kleines Haus im wörtlichen Sinn. Das Unter­geschoss ist weniger als zwei Meter hoch, dort befindet sich die Manga-Sammlung des Eigen­tümers. Zwischen den Regalen kann ein Bett heruntergeklappt werden, dahinter befindet sich ein kleines Bad. Das Obergeschoss besteht nur aus einem Raum zu Wohn-, Koch- und Esszwecken. Hasegawa sagt: „Ich interessiere mich für Typologien und frage mich, wie man als Architekt einen alltäglichen oder selbstverständlichen Ausdruck eines Hauses erzielen könnte. Wie kann man ein Haus entwerfen, das einem ganz gewöhnlichen Gebäude ähnelt? Wie kann man als Architekt dem täglichen Leben und den alltäglichen Anforderungen eines Hauses entsprechen.“
Während Fujimoto also die für Tokio und Japan typischen Elemente bei den „Tokyo Apartments“ mit feiner Ironie aufeinanderstapelt, versucht Hasegawa, sich durch Unauffälligkeit in die urbane Struktur Tokios einzugliedern. Der Lageplan belegt den Erfolg. Ein Vergleich zwischen dem Lageplan und dem Foto des Hauses zeigt ein weiteres Phänomen kleiner Häuser: Wo im Plan nördlich noch eine unbebaute Zone zu sehen ist, steht auf dem Foto wenige Jahre später im Hintergrund ein neues Gebäude. Häuser in Japan werden nicht alt, die wenigsten erleben ihr dreißigstes Jahr. Auch Hasegawas Haus vermittelt den Eindruck, als sei es nur kurz da, anstatt fest auf dem Boden zu stehen. Der Lageplan könnte in zwanzig Jahren strukturell ähnlich sein, auch wenn die Gebäude in der Zwischenzeit erneuert worden sind.
Edward Morse schrieb 1886: „Da wie bei uns ein feuerfestes Gebäude für Wohnzwecke jenseits der Möglichkeiten und Mittel liegt, die die meisten Leute haben, verfielen sie ins andere Extrem und bauten Häuser, die bei Feuerausbruch blitzschnell demontiert werden können. Die Matten, Teile der Trennwände und sogar die Deckenbretter können schnell zusammengepackt und fortgeschafft werden, ebenso Ziegel und Dachlatten, das Fachwerkskelett liefert den Flammen dann nur noch wenig Nahrung.“
Die Kurzlebigkeit japanischer Häuser lässt sich mit dem feuchten Klima erklären, sie mag mit der ständigen Bedrohung durch Erdbeben und Feuersbrünste zusammenhängen und ihren Grund in der Begeisterung für technische Innovationen haben. Es besteht jedoch Anlass zu glauben, dass Shintoismus und Buddhismus als Japans wichtigste Religionen ihren Einfluss auf Stadt und Haus ebenso geltend machen. Die Vorstellung vom Leben als beständigem Wandel und Abfolge temporärer Existenzen im Buddhismus einerseits und der Shintoismus als nicht hie­rarchische, dezentrale, fragmentierte Naturre­ligion andererseits liefern einen starken Hintergrund zur Erklärung der Erscheinungen des Hauses und der Stadt in Japan.
Fakten
Architekten Fujimoto, Sou; Hasegawa, Go; Bow-Wow
aus Bauwelt 32.2016
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