Kein Ruhebett für Bilder
El Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ von 1927 ist im Sprengel-Museum Hannover neu rekonstruiert worden
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Kein Ruhebett für Bilder
El Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ von 1927 ist im Sprengel-Museum Hannover neu rekonstruiert worden
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Die Geschichte der Kunst ist auch immer eine Geschichte des Sammelns und Ausstellens. Im Museion der griechischen Antike wie auch im Mittelalter dominerte der religiöse Charakter einer Sammlung. Im römischen Imperium, später während Renaissance und Barock, säkularisierte sich die Kunst, sie diente nun auch der Demonstration politischer Macht. Mit der Galerie erfand man im 16. Jahrhundert den passenden Gebäudetypus, die dem Schlossbau entlehnte Folge repräsentativer Säle. Unter dem Diktat der Architektur verschmolzen hier Kunst, Natur- und Kultobjekte zu einem Gesamtkunstwerk, das die göttliche Idee in der Vielfalt der sichtbaren Welt offenbaren sollte. Um 1800 entstand die heutige Institution Museum, reine Kunstmuseen konstituierten sich. Sie arrangierten ihre Sammlung, wenn überhaupt bewusst, nach Stilen, die Räume in überbordender Fülle von Boden bis Decke dicht mit Bildern behängt. Nur mit der aktuellen Kunst tat man sich schwer, sonderte sie lieber in spezielle Häuser aus, vertraute auf die ewige Autorität historischer Epochen – ohne die evolutionäre Rolle der Zeit erkennen zu wollen.
Ein derart statisches Kunstmuseum war auch das Provinzialmuseum Hannover, Vorläufer des heutigen Landesmuseums, als der Kunsthistoriker Alexander Dorner (1893–1957) dort 1923 die Leitung übernahm. Dorner jedoch hatte während seines Studiums der Kunstgeschichte nach einer dynamischen Erklärung des Stilwandels gesucht, hatte das Werden eines Stils, sein Wachsen aus einem anderen, als eine zweite Wahrheit neben das Ewigzeitliche gestellt. Sein Modell bezog politische und gesellschaftliche Veränderungen ebenso ein, wie es die Kunst der Gegenwart als Perspektive benötigte.
Statt in Epochen ordnete Dorner die Hannoversche Sammlung nun in neuartigen Atmosphärenräumen, die das Sehen und Empfinden früherer Zeiten ebenso vermitteln wollten wie ein Verständnis der Kunst als kontinuierlichen Prozess schöpferischen Wachstums. Seine komplexen Installationen arbeiteten mit farbigen und architektonischen Raumfassungen, stellten einzelne Kunstphasen chronologisch aneinander und zeigten sowohl deren spezielle Eigenart als auch die Integration in eine große Sequenz.
Nach 1922 war Dorner zudem in der Kestner-Gesellschaft aktiv, dem großbürgerlichen Kunstverein Hannovers, den er gleichfalls modernisierte. Er verschob den Schwerpunkt zur abstrakten Kunst, zeigte Filme und Ausstellungen zum Bauhaus und zu moderner Architektur. Durch die Kestner-Gesellschaft bewegte sich Dorner in der künstlerischen Avantgarde der Weimarer Republik um Gropius, Schwitters, Moholy-Nagy – und den russischen Konstruktivisten El Lissitzky. Das Multitalent, 1890 im Bezirk Smolensk geboren, mehrsprachig und künstlerisch gefördert aufgewachsen, hatte von 1909 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an der TH Darmstadt Architektur studiert, 1918 in Moskau diplomiert und kam 1921 nach Deutschland zurück. Bis zu seinem Tod 1941 in Moskau pendelte er zwischen Westeuropa und Russland, war er zentrale Figur des intellektuellen Austauschs. Seine vielfältigen künstlerischen Interessen galten der Malerei, Grafik und Typografie, dem Fotografieren und der visionären Architektur.
Bereits um 1920 hatte El Lissitzky seine eigene Kunstform proklamiert: Proun (ausgesprochen Pro-un, das russische Akronym für „Projekt zur Förderung neuer Formen in der Kunst“), seine Umsteigestation von einer radikal gegenstandslosen Malerei im Geiste von Malewitsch in die Architektur. Proun ist die Komposition geometrischer Elemente wie Linie, Fläche oder Quader, teils in abenteuerlicher, Schwerkraft und Logik negierender Konstellation, schwebend im grenzenlosen Raum. Proun kann Malerei oder Relief in der Fläche sein, vor allem aber dreidimensionale Installation, die El Lissitzky an drei Demonstrationsräumen erprobte: 1923 als Proun-Raum in Berlin, 1926 als Raum für konstruktive Kunst in Dresden und 1927, auf Einladung Alexander Dorners, als abstraktes Kabinett in Hannover.
El Lissitzky ging es um nichts weniger als einen dynamischen Raumbegriff. Er forderte: Wir zerstören die Wand als Ruhebett für ihre Bilder. Als vierte Dimension aktivierte er die Zeit, berief sich auf Einsteins Relativitätstheorie, sah Raum und Zeit sich in der Bewegung konkretisieren. Das letzte Kabinett in Dorners kunsthistorischer Chronologie bereitete fortan der ungegenständlichen Kunst eine Bühne: die Wände durch aufgesetzte, schwarz-weiß lackierte dünne Lamellen in ihrer physischen Eindeutigkeit aufgelöst, der Boden in unendlich tiefes Schwarz getaucht, die Kunst ihrer Rahmen befreit. Der flimmernden optischen Dynamik der Raumgrenzen antwortete die Aktivierung des Besuchers: Einige der Werke ließen sich auf beweglichen Tableaus verschieben, andere durch Paneele abdecken, jeder konnte sein ganz persönliches Kabinett genießen. Dafür stellte der Raum auf nur 23 Quadratmetern Fläche etwa 25 Werke bereit.
Alfred Barr, Gründungsdirektor des New Yorker MoMA, lobte nach einen Besuch 1935 das Kabinett als wahrscheinlich weltweit bedeutendsten Einzelraum für die Kunst des 20. Jahrhunderts. 1937 wurde es durch die Nationalsozialisten zerstört. Eine erste Wiederherstellung folgte 1968, sie wurde 1979 ins Sprengel-Museum überführt. Jetzt zeigt das Haus eine vollkommen neue Rekonstruktion, die aktuelle Forschungserkenntnisse berücksichtigt, etwa zur ursprünglichen Polychromie. Wie ein roter Faden begleitet nun ein lineares Element, weder der Architektur noch den Exponaten sklavisch verpflichtet, den Besucher durch das Sammlungskabinett, überwindet mit ihm gleichsam Raum und Kunst.
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