Gegen die Zeit – mit der Zeit
Welche Denkmalphilosophie verträgt die Neue Nationalgalerie? Etliche Gebrauchsspuren bleiben sichtbar. Es wurde repariert aber auch viel komplett ausgetauscht.
Text: von Buttlar, Adrian, Berlin
Gegen die Zeit – mit der Zeit
Welche Denkmalphilosophie verträgt die Neue Nationalgalerie? Etliche Gebrauchsspuren bleiben sichtbar. Es wurde repariert aber auch viel komplett ausgetauscht.
Text: von Buttlar, Adrian, Berlin
Werke der Baukunst lassen sich in Raum und Zeit, Politik-, Kultur-, Kunst- und Sozialgeschichte sehr genau verorten: Sie sind historisch, altern physisch und oft auch ideell. Schlimmstenfalls veralten sie. Mitnichten sind sie aber auch dann nur noch – wie Gottfried Semper 1869 resignierend befürchtete – „fossile Gehäuse ausgestorbener Gesellschaftsorganismen“. Vielmehr ragen sie als Baudenkmäler – als Zeugnisse aus „anderer Zeit“– in die dystopische Gegenwart hinein, sprengen durch ihre ästhetische Kraft und geistige Präsenz ihre historische Relativität und bleiben für unsere gegenwärtigen Zeitgeist-Produkte, etwa rekonstruierte Preußenschlösser, eine machtvolle Provokation.
Das gilt in besonderem Maße für die Neue Nationalgalerie, die nicht erst heute, sondern schon in ihrer Erbauungszeit eine Extremposition „gegen die Zeit“ verkörperte: Parallel zum damals florierenden Brutalismus und Strukturalismus, zu den utopistischen Visionen Buckminster Fullers und Yona Friedmans, den Metabolisten, den Leichtbauexperimenten Frei Ottos oder den Hängehaus- und Raumnetzträumen des Conrad Roland entstand dieser Meisterbau als wohl letzte Epiphanie eines traditionsreichen „abendländischen“ Ordo-Gedankens, der von der Tektonik des Griechischen Tempels über die kosmische Geometrie Albertis und Palladios bis zu den klassizistischen Adaptionen Schinkels reicht. Dass Schinkels Hybrid eines hermetischen, zum Museum ausgebauten Sockelbaus und eines bekrönenden vollverglasten Aussichtstempels in seinem Entwurf für das Zarenschloss Oreanda auf der Krim (1838) Mies van der Rohe dazu inspiriert haben dürfte, die schon für andere Bauaufgaben angedachte Entwurfsidee in Berlins Museum der Moderne zu realisieren, hat Wolf Tegethoff 1981 zu Recht vermutet.
Mit der „klassischen“ Großform war aber zugleich die seit Aufklärung und Romantik dominante Idee des Museums als einer ästhetischen Kirche und der Musealisierung der Kunst als seelisch-sittliche Andacht und Bildungserlebnis verknüpft: in diesem Falle ausgerechnet der Moderne des 20. Jahrhunderts, die ja ursprünglich zumeist aus der Revolte gegen die etablierten akademischen, feudalen und bürgerlichen Werte heraus entstanden war! Der schwer bespielbare Glastempel und das sorgsam durchkalkulierte Souterrain der Gemäldesäle widerstrebte schon 1968 der aufkommenden Sehnsucht nach einem flexibler inszenierbaren White Cube, der mittlerweile die Museumskuratoren inspirierte. Diese von Anfang an präsente Spannung zwischen der ästhetischen Übermacht des Gehäuses und der Dynamik der museologischen Freiheiten des display war aktueller denn je, als es ab 2015 darum ging, die Neue Nationalgalerie einer umfassenden Instandsetzung zu unterziehen: Welche Denkmalphilosophie sollte verfolgt werden? Würde es nicht ausreichen, das äußere Bild der bauphysikalisch und funktional keineswegs unproblematischen Architekturikone ins 21. Jahrhundert hinüberzuretten? Sollte man nicht in der gestalterischen Adaption an gegenwärtige Bedürfnisse viel freier verfahren, zumal der denkmalpflegerische Authentizitätsbegriff (Charta von Venedig 1964) in den letzten Jahrzehnten durch graduelle Abkoppelung von der materiellen Substanz im Zuge des „iconic turn“ zugunsten einer vagen Ethik des Erinnerns zunehmend aufgeweicht wurde? Es spricht für das hohe Verantwortungsbewusstsein der denkmalerprobten Bauherrn und Architekten, die nach zähem Ringen beim Wiederaufbau des Neuen Museums gemeinsam ein triumphales Ergebnis erzielt hatten (Bauwelt 13.2009), dass in diesem Falle von vornherein ein sehr hoher Grad des Konsenses über radikale Integrität und Authentizität des Bauwerks den Sanierungsprozess bestimmte.
Gleichwohl war über grundlegende Konflikte zu entscheiden. Ins Reich der Legende gehört dabei die Vorstellung, dass die Denkmalpflege anBauten der Moderne anderen Regeln folge als an älteren Objekten. Wahr ist allerdings, dass die Minimierung der konstruktiven und der ästhetischen Masse, namentlich das „less is more“ von Mies, besondere Schwierigkeiten bescherte. Die gravierendste Frage war, ob ein umfänglicher, durch tiefe Eingriffe in den konstruktiven Betonkern des Bauwerks und durch die vollständige Erneuerung der technischen Infrastruktur bedingter Rückbau überhaupt noch mit der Prämisse materieller Integrität vereinbar sei. Dieses Dilemma einer unverzichtbaren, „mit der Zeit“ gehenden Ertüchtigung des Bauwerks konnte nur durch äußerste methodische Sorgfalt und ein sehr aufwändiges Vorgehen gelöst werden, indem weite Teile der sichtbaren hölzernen und steinernen Verkleidungen einschließlich der strapazierten Bodenplatten abmontiert, repariert und in situ wieder angebracht wurden. Ein solches Verfahren lässt sich finanziell, aber auch technisch oft nicht praktizieren, wie etwa das Beispiel der blauen Stahlblechverkleidung des Umlauftanks UT2 von Ludwig Leo in Berlin gezeigt hat, die nach zähen Abwägungen 2018 dann doch am Ende vollständig ersetzt werden musste.
Die zweite große Herausforderung stellte der Umgang mit den übergroßen, in die Stahlrahmungen eingespannten Einfachverglasungen der Halle dar, die durch klimatische Spannungen immer wieder beschädigt und deshalb in der Folge mehrfach teilersetzt und durch Fugen zerteilt wurden. Auch hier entschied man sich zu keiner grundlegenden konstruktiven (und damit auch ästhetischen) Veränderung der defizitären Konstruktion, sondern lediglich für eine Minderung der Gefahren durch ein Verbundglas und den Einbau unsichtbarer Dehnungsfugen im Rahmenwerk. Die Wirkung ist wieder grandios wie einst. Die Neuverglasung von Bauten der Moderne stellt nicht zuletzt durch die mit hoher Resistenz gegen UV-Strahlung verbundene Tönung des Glases eine besondere Gefahr für das bauzeitliche Erscheinungsbild dar, wie die Sanierung von Max Bills Hochschule für Gestaltung in Ulm 2011 gezeigt hat. Auch wegen der konsequenten Rückkehr zu den Monumentalmaßen der ungeteilten Scheiben musste hier auf UV-Schutz verzichtet werden. Mies löste die bauphysikalischen Licht- und Kondenswasserprobleme nur unvollkommen und dabei bleibt es, nämlich durch die von den Museumsleuten und Architekturfans wenig geliebten und deshalb 1990 beseitigten Vorhänge, um deren Wiederanbringung heftig gerungen wurde. Darüber hinaus durch simple Rücksichtnahmen im jahreszeitlichen Gebrauch. Schließlich gehört zum Postulat der Inklusion heute selbstverständlich barrierefreier Zugang zu allen Geschossen. Ein zweiter Aufzug wurde optisch geschickt in eine der holzverkleideten Garderobeninseln integriert.
Im Übrigen: Die meisten sichtbaren Details und Einbauten sind, soweit möglich, mit großer Sorgfalt repariert, gereinigt, gängig gemacht und weiterverwendet worden. Der sprichwörtliche „neue Glanz“, der stets mit dem Verlust an Patina einhergeht, war hier nie Selbstzweck; lernen wir doch wiederum schon bei Semper, dass Anstriche, Lacke und Beizen in erster Linie nicht Schmuck, sondern Konservierungsmittel sind, so auch bei der Aufarbeitung der berühmten Stahlstützen von Mies und des Stahlkassettendachs, der die Versorgungsschächte umschließenden Edelmarmorwände und teilweise ausgebleichten Holzoberflächen der. Etliche Gebrauchsspuren und somit ein Hauch des berühmten Riegl’schen „Alterswertes“ bleiben glücklicherweise ablesbar.
Dass auch das untere Geschoss – abgesehen von umfassenden technischen Ertüchtigungen (Klimatisierung, Brandschutz, Sicherheit) – ästhetisch weitgehend unangetastet blieb, ist der Pietät vor der konsequenten Durchgestaltung durch Mies zu verdanken. Die Fußbodenbeläge waren stets, und auch schon im Entwurfsprozess, ein heikler Punkt und wurden seinerzeit schließlich zugunsten von heute wenig geschätzten Teppichböden entschieden. Man hat sich – wiederum „gegen die Zeit“ – dafür entschieden, ihre Materialität und akustisch wohltuende Wirkung wiederherzustellen, aber auf die allzu wohnlichen Raufasertapeten zu verzichten. Die teils künstlich belichteten, teils sich zum großen Tiefgarten öffnenden Saalfolgen sind keineswegs neutra-le Räume: Was beidseitig der feierlichen zentralen Enfilade gehängt wird, kann dem Anspruch, Bilder als Pendants zu feiern, kaum entgehen. Lediglich die Besuchergarderobe und der Museumsshop wurden dem Organismus neu eingepasst, indem dafür zwei Depots umgenutzt und optisch geöffnet worden sind. Ihre Ausgestaltung mit edlen Holztresen versucht sich der Ästhetik von Mies anzupassen, was zumindest denkmaltheoretisch einen Schwachpunkt darstellt – eine spürbar nüchterne Absetzung dieser Nutzräume hätte diese funktional erforderlichen Interventionen klarer ablesbar gemacht.
Will man ein Resümee aus dieser gewaltigen und klugen Kraftanstrengung der vergange-nen sechs Jahre ziehen, so erweist sich die denkmalpflegerische Leistung der Architekten und der Verzicht ihrer Auftraggeber auf „Modernisierung“ und „eigene Handschrift“ als die denkbar beste im Sinne des dictums, dass man die Sanierung dem Denkmal kaum ansehen kann und doch ein Meisterwerk der Weltarchitektur für die nächsten Jahrzehnte gerettet wurde: schlichtweg repariert und ertüchtigt! Der Ball der Nutzung der freilich begrenzten Spielräume zur Neupräsentation der Sammlung liegt nun im Feld der Museumsleute. Und er liegt noch auf einer anderen Ebene: auf der der staatlichen Baupolitik, die für den schwierigen Stadtraum des Kulturforums zuständig ist, in dem sich dieser Tempel der Kunst präsentiert und in den er ausstrahlt. Dessen waren sich Scharoun und Mies voll bewusst, als sie sich gegenseitig und auch Stülers Matthäi-Kirche einkalkulierten. Während die Gartendenkmalpflege den Tiefgarten vorbildlich wiederherstellte, wird der zukünftige Nachbar unter dem irreführenden Sedativum eines „Dialogs“ (Jacques Herzog) der Neuen Nationalgalerie demnächst heftig zu Leibe rücken und die meisten Blickbeziehungen für immer verbauen, wie Stephan Braunfels kürzlich in einer Studie zur Neuen Nationalgalerie noch einmal in erschreckenden Simulationen verdeutlicht hat.
Adrian von Buttlar 1968 bis 1976 Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Soziologie in München und London. 1984 Habilitation zu Leo von Klenzes Architektur im Spannungsfeld zwischen Klassizismus und Historismus. Bis 2001 Professor für Kunstgeschichte in Kiel und von 2001 bis 2013 an der TU Berlin.
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