Der Maler des Raumes
Das Rijksmuseum in Amsterdam versammelt in einer Ausstellung fast alle überlieferten Gemälde von Johannes Vermeer. In ihnen zeigt sich ein minutiöses Studium der Gesetze der Optik.
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Der Maler des Raumes
Das Rijksmuseum in Amsterdam versammelt in einer Ausstellung fast alle überlieferten Gemälde von Johannes Vermeer. In ihnen zeigt sich ein minutiöses Studium der Gesetze der Optik.
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Stadtveduten gibt es in der Malerei seit dem ausgehenden Mittelalter. Es lag also schon eine lange, vielfach gewundene Tradition vor, als Johannes Vermeer um 1661 eine Ansicht seiner Heimat Delft malte. Er wählte einen Standort außerhalb der ummauerten Stadt, jenseits des Hafens im Süden, wo sich das Gewässer zu einem Becken weitet. Durch die Distanz vom Standpunkt zu den vordersten Baulichkeiten jenseits des Hafens gelang es Vermeer, die aus der Silhouette hervorstechenden Gebäude optisch auf eine bildparallele Linie zu bringen, ohne der tatsächlichen, wenngleich geringen perspektivischen Verkürzung Gewalt anzutun.
Anders als die üblichen Ansichten in grafischen Medien, die stets der Versuchung nachgeben, bedeutende Bauten wie etwa Kirch- oder Rathaustürme zu vergrößern und prominenter zu platzieren, ist Vermeers Gemälde vollkommen wirklichkeitsgetreu. Das spürt der Betrachter, ohne es wissen zu müssen. Die Unaufgeregtheit des Gemäldes spiegelt die Unaufgeregtheit der Stadt, deren vorderste Baureihe bezeichnenderweise im Schatten der Wolken liegt, die im ansonsten sommerlich blauen Himmel angeschnitten dargestellt sind.
Johannes Vermeer, 1632 in Delft geboren, dort zum Künstler gereift und zwanzig Jahre lang erfolgreich tätig, ehe er 1675 plötzlich verstarb, zählt zu den größten Meistern der europäischen Kunst. Die monografische Ausstellung, die ihm das Amsterdamer Rijksmuseum zueignet, trägt als Titel nichts als den Namen des Künstlers. Sie ist eine Veranstaltung, wie sie in jeder Generation höchstens einmal stattfindet. Mit 28 Gemälden des Meisters, von dem – je nach Beurteilung einer oder zweier strittiger Arbeiten – nur zwischen 35 und 37 Werke erhalten sind, der aber ohnehin nach begründeten Schätzungen kaum mehr als 50 Bilder je gemalt hat, bietet die Amsterdamer Ausstellung die einmalige Gelegenheit zum unmittelbaren Vergleich der Bilder und damit der Arbeitsweise des Malers – ganz abgesehen von dem schieren Glück, diese unendlich oft in Abbildungen „gesehenen“ Bilder dieses eine Mal tatsächlich vor Augen zu haben.
Über Vermeer ist wenig bekannt, kaum etwas hat er hinterlassen. Vor allen Dingen fehlen jegliche Zeichnungen oder Vorstudien, wie sie ein Maler, der die Wirklichkeit geschaut hat, seine Gemälde aber im Atelier komponiert und ausführt, geradezu zwingend anfertigen muss. Vermeer offenbar nicht. Es bleibt ein Rätsel, wie er die topografisch exakte Ansicht von Delft – und sie ist überhaupt die einzige Stadtansicht in seinem Œuvre! – ohne zeichnerische Fixierung hat anfertigen können.
Aber auch die Interieurs, die stillen, von einer Person oder höchstens derer zwei oder drei bevölkerten Ansichten eines nahezu ereignislosen So-Seins, sind in optischer Hinsicht bemerkenswert. Es ist lange schon vermutet worden, dass Vermeer der Gebrauch der Camera obscura nicht nur bekannt war, sondern er sie auch selbst benutzt hat; also jenen dunklen Kasten mit einem möglichst kleinen Loch an der Vorderseite, durch das die Lichtstrahlen ein spiegelverkehrt auf dem Kopf stehendes Abbild der Realität auf die Rückwand werfen. Die ausgefeilten Perspektiven der Innenräume mit ihren Böden aus quadratischen Fliesen und den in Schrägsicht dargestellten, womöglich noch halb geöffneten Fenstern immer zur Linken lassen ein Studium der zeitgenössischen theoretischen Werke zur Optik vermuten. Die Forschungsergebnisse des Rijksmuseum-Kurators Gregor Weber zu den bislang weit unterschätzten Verbindungen Vermeers zu den katholischen Kreisen seiner Heimatstadt, zumal den Jesuiten, werfen ein völlig neues Licht auf den intellektuellen Horizont des Künstlers.
In diesem Milieu gingen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und religiöse Dogmen etwa in der Vorstellung des „göttlichen Lichts“ nahtlos zusammen. Das Vermögen der Camera obscura, die Realität genauer abzubilden als jede Malerei, war in der holländischen Fachliteratur bereits lange vor Vermeer dargelegt worden.
In diesem Milieu gingen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und religiöse Dogmen etwa in der Vorstellung des „göttlichen Lichts“ nahtlos zusammen. Das Vermögen der Camera obscura, die Realität genauer abzubilden als jede Malerei, war in der holländischen Fachliteratur bereits lange vor Vermeer dargelegt worden.
Zeitgleich zu der Amsterdamer Blockbuster-Show – gut eine halbe Million Besucher wird erwartet – ist im Delfter Prinsenhof die Ausstellung „Vermeers Delft“ zu sehen, die als Ergänzung, ja eigentlich als Grundlage zum Verständnis der Amsterdamer Präsentation unerlässlich ist. Denn in Delft sind nicht nur Dokumente wie etwa Nachlassinventare ausgestellt, die die Persönlichkeit des enigmatischen Malers ein wenig deutlicher konturieren, sondern vor allem auch Gemälde seiner Kollegen in der Delfter Lukasgilde, zu deren Vorstand er zweimal berufen wurde, ein deutlicher Beleg für seine berufliche Anerkennung. Maler wie Gerard Houckgeest oder Hendrik van Vliet wagten sich an die Darstellung der komplizierten Geometrie der gotisch gewölbten Neuen Kirche, in der das hochbarocke Grabmal Wilhelms des Schweigers eine zusätzliche Herausforderung darstellte. Daniel Vosmaer komponierte eine Stadtansicht durch eine imaginäre Loggia, mit der selbstgewählten Schwierigkeit, Bogenstellungen wie auch das unvermeidliche Schachbrettmuster der Bodenfliesen in Schrägansicht darzustellen. Die außergewöhnlichste Stadtansicht jedoch, die Vermeers tragisch verunglückter Kollege und Mitbürger Carel Fabritius 1652 von Delft schuf, als ob ihm ein Ultraweitwinkel-Objektiv zur Verfügung gestanden hätte, ist leider nicht für die Ausstellung hergeliehen worden.
Drei Jahre vor seinem Delfter Stadtpanorama von 1661 malte Vermeer den einzigen weiteren Außenraum seines Œuvres, die sogenannte „Kleine Straße“. Bereits in diesem Gemälde wählte er eine bildparallele Anordnung der Hausfassade, was ihm zugleich ermöglichte, den Betrachter mit dem Linienmuster des aus Backsteinen gebildeten Straßenpflasters ins Bild geradewegs hineinzuziehen. Von den dargestellten Gebäuden ist heute nur noch ein unscheinbarer, steinerner Türrahmen erhalten. Im Unterschied zu den Interieurs mit musizierenden oder brieflesenden jungen Frauen, die er bisweilen nur geringfügig abwandelte, hat Vermeer sich nie wieder an Außenräume gemacht, und die beliebten Innenansichten von Kirchen fehlen bei ihm völlig. Das erstaunt bei einem Maler von so überragender Meisterschaft – bei allerdings äußerst reduzierter Produktivität von selbst in den ertragreichsten Jahren nicht mehr als vier Gemälden. In seinen späten Jahren hörte Vermeer überhaupt auf zu malen, wohl ein Reflex auf die schwere Krise, in die die Niederlande mit dem erneuten Kriegsausbruch des Jahres 1672 gerieten. Die allgemeine Krise wurde zur persönlichen Katastrophe. Vermeer muss in helle Panik geraten sein, was die wirtschaftliche Absicherung seiner vielköpfigen Familie anlangt, und könnte einem Infarkt erlegen sein. Aber er war bei seinem Tod nicht, wie es zum früheren Narrativ gehört, vergessen. Von 14 Männern wurde sein Sarg getragen, während Glockengeläut ertönte. Es war der durch die angehäuften Schulden bedingte rasche Ausverkauf seiner Bilder nach 1675, der die Erinnerung an den Maler löschte. In seinem Delft, das er ein Leben lang nicht verließ, ist keines seiner unschätzbaren Gemälde verblieben.
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