Dialektik der Fülle
Text: Costadura, Leonardo, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin
Dialektik der Fülle
Text: Costadura, Leonardo, Berlin; Klingbeil, Kirsten, Berlin
Die Bekehrung des Heiligen Augustinus zum Christentum wurde durch eine Kinderstimme ausgelöst, die ihm zurief: „Tolle, lege! Tolle, lege!“ (lat. „Nimm, lies! Nimm, lies!“) Augustinus nahm den Römerbrief des Apostel Paulus, schlug ihn auf und las: „Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.“ Ob die kindliche Stimme jene Austerität teilte, die Paulus vortrug, ist nicht überliefert. Jedenfalls hatte diese Begebenheit schwerwiegende Konsequenzen für die Geistes- und Kulturgeschichte Europas.
Das Bild des nur von Gedanken sich ernährenden Studiosus ist allen geläufig, uns sein natürliches Habitat ist selbstverständlich die Bibliothek, zwischen turmhohen Regalen. Um für diese Bauaufgabe, die es seit drei oder vier Jahrtausenden gibt, noch neue Lösungen zu finden, bedarf es eines genialischen Schöpfers, meint man, aber zum Glück haben wir uns ein wenig von der mönchischen Strenge entfernt und begreifen heute solche Orte anders. Bibliotheken sind zwar nach wie vor Räume des lesenden Lernens, aber ebenso der Begegnung – auf den Punkt gebracht könnte man sagen, sie werden auch eingedenk der Digitalisierung nicht mehr um das Buch herum, sondern um den Menschen herum gebaut (siehe auch den Beitrag im Magazin, Seite 11).
Nach wie vor sind hier Architektinnen und Architekten gefragt, die mit Einfallsreichtum und gestalterischem Brio entwerfen und mit handwerklichem Können bauen, denn Bibliotheken sollen Orte der Inspiration sein, an denen sich jeder gerne aufhält. Wir haben für dieses Heft vier Beispiele ausgesucht, die nach unserem Verständnis diese Aufgabe zwischen Materialfülle und Freiraum für Gedanken, zwischen Kommunikation und Einkehr vorbildhaft gelöst haben.
Archipreneurs
Zwei neue Wohnhäuser in Berlin teilen über den Standort hinaus weitere Gemeinsamkeiten. Beide schließen letzte Lücken in der Innenstadt, beide haben graue Fassaden (aber nicht die gleiche Materialität), beide haben Geländer aus V-Streben, beide wurden vom selben Fotografen fotografiert, aber vor allem: Bei beiden sind die Architekten auch als Entwickler aufgetreten. Für das erste Haus, das Projekt einer Baugemeinschaft, zeichnet das Büro zanderroth verantwortlich. Für das zweite ein junges Schweizer Büro, das hier das erste Mal als „Archipreneur“ aufgetreten ist – im Englischen gibt es natürlich längst eine Wortkreation für Architekten, die auch Unternehmer sind.
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