Bauwelt

Die Suche nach alternativen Lösungsansätzen wird zur Überlebensfrage

John F. C. Turner 1927 – 2023

Text: Golda-Pongratz, Kathrin, Düsseldorf; Oyón, José Luis, Barcelona; Zimmermann, Volker, Berlin

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Foto: Kathrin Golda-Pongratz

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Die Suche nach alternativen Lösungsansätzen wird zur Überlebensfrage

John F. C. Turner 1927 – 2023

Text: Golda-Pongratz, Kathrin, Düsseldorf; Oyón, José Luis, Barcelona; Zimmermann, Volker, Berlin

Am Abend des ersten Septembersonntags verstarb der Architekt John Francis Charlewood Turner im Alter von 96 Jahren in Hastings, im Süden Englands, wo er seit Ende der 80er-Jahre lebte. Vor sechzig Jahren, 1963, richtete die von ihm editierte Augustausgabe des Architectural Design erstmals den Blick der europäischen Architektenschaft auf die selbstgebauten Siedlungen in Peru. Große Bekanntheit erlangte Turner schließlich in den 70er-Jahren mit seinen Forschungen zum Selbstbau und seiner Interpretation des Wohnens als Aktivität und als Prozess; „housing as a verb“ war das Thema, für das er sich sein ganzes Leben lang interessierte.
John Turner studierte zunächst Architektur an der Architectural Association (AA) in London. Inspiriert vom anarchistischen Denken Colin Wards und Pjotr Kropotkins entwickelte sich sein Interesse für Gemeinschaftsarchitektur. Der bei weitem wichtigste Einfluss war aber die Entdeckung der Ideenwelt des schottischen Biologen und Stadtplaners Patrick Geddes (1854–1932).
Turner kam 1957 durch Vermittlung seines Freundes Eduardo Neira nach Peru, mit dem er die Faszination für Geddes teilte. Dort arbeitete er acht Jahre als junger Architekt für staatliche und internationale Organisationen, zuerst in Arequipa und später in Lima. Stark beeindruckt durch die enorme Selbstbauaktivität in den Barriadas wurde Turner nach eigenen Worten „entschult“, in Übernahme des Ausdrucks von Ivan Illich. Von nun an widmete er sich der Erforschung der Elemente des Wohnprozesses und der Funktion der Wohnung im Leben der Menschen.
Im folgenden Lebensabschnitt, von 1965 an, vertiefte Turner seine Forschungstätigkeit als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und später in London an der AA und der Development Planning Unit des University College. Seine zwei einflussreichsten Bücher, Freedom to build (1972) und Housing by people (1976), waren maßgebend für die Habitat-Konferenz der Vereinten Nationen 1976 in Vancouver und begründeten seinen internationalen Ruf als Experte für Wohnungsbau. Im Jahr 1988 wurde Turner der Right Livelihood Award, der sogenannte Alternative Nobelpreis, verliehen.
Sehr häufig wurde John Turner als unbeirrbarer Verfechter des Selbstbaus im wörtlichen Sinne interpretiert, obwohl er in Wirklichkeit vor allem die Selbstbestimmung der Menschen im Bauen einforderte, vor allem im Hinblick auf das Gemeinschaftliche. Seit Ende der 70er-Jahre versuchte er, gemeinsam mit seiner Frau Bertha, zu diesen Ursprüngen zurückzukehren und widmete sich der Mitarbeit in Nachbarschaftsinitiativen, zunächst in London und seit 1989 in Hastings.
In der Bauwelt-Ausgabe 20 vom 27. Mai 1983 zum Thema „Architektur-Kolonialismus“ veröffentlichte Turner den Beitrag „Braucht die ‚Dritte Welt‘ eine neue Architektur?“. Er spricht darin Aspekte im Prozess des Planens und Bauens an, die für ihn eng miteinander verbunden sind: Das ist zum einen die Rolle der Architektinnen und Architekten, als „Experten“, und ihr Verhältnis zu den Nutzerinnen und Nutzern, den „Inperten“. „Genauso wesentlich erscheint mir das Arbeiten mit den Bewohnern, und nicht für sie“, schreibt Turner und fordert hier eine grundsätzlich andere Form von Interaktion auf Augenhöhe. Übertragen auf das Verhältnis zur sogenannten Dritten Welt – „für mich gibt es nur eine Welt“ – hieß das für ihn auch eine Abkehr von der kolonialistischen Sichtweise des Nordens hin zu einer ebenbürtigen Zusammenarbeit.
Zum anderen forderte Turner „Another Development“, die Notwendigkeit eines kooperativen und ressourcenschonenden Handelns angesichts der gravierenden ökologischen Probleme der Welt. Bereits vor vierzig Jahren mahnte er in dem Bauwelt-Artikel einen Paradigmenwechsel an: „Für diejenigen unter uns, die den Glauben an grenzenloses Wirtschaftswachstum und den Segen des technologischen Fortschritts verloren haben, wird die Suche nach alternativen Lösungsansätzen zur Überlebensfrage für die Menschheit und – jedenfalls für die jüngeren unter uns – auch für die eigene Person.“
In den Jahren seit 2011 bei unserer engen Zusammenarbeit für sein von Geddes inspiriertes Lebensprojekt „Framework“ und eine gemeinsame spanischsprachige Publikation (Autocons­trucción. Por una autonomía del habitar. Logroño 2018) lernten wir John Turner als einen faszinierenden und großzügigen Menschen kennen, der als praxisorientierter Theoretiker interdisziplinär dachte und unermüdlich für eine bessere Welt arbeitete. Die Sorge um die Zukunft unseres Planeten dominierte das Denken Turners bis zu seinem Tod. Sein Vermächtnis ist in einer Welt, die in einer tiefen ökologischen und sozialen Krise steckt, relevanter denn je. Wir werden unser Möglichstes tun, seine Ideen weiter zu verbreiten, um aus ihnen neue architektonische und soziale Werkzeuge zu entwickeln.

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