Bauwelt

Ein aufrechter Freigeist in allen Systemen

Bruno Flierl 1927-2023

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

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Foto: Frank Schumann

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Ein aufrechter Freigeist in allen Systemen

Bruno Flierl 1927-2023

Text: Kil, Wolfgang, Berlin

Unweigerlich kam Spannung auf, sobald er ans Mikrophon trat, um zu einem seiner stets druckreifen Kommentare anzusetzen. Bruno Flierl war der einflussreichste Architektur- und Stadttheoretiker der DDR, zudem vehementer Kritiker der SED-Baupolitik. An den messerscharfen Analysen und provokanten Thesen dieses brillanten Redners kam in der DDR kein engagierter Architekt vorbei. Als nach 1990 das große Reisen begann, ließen sich seine Freunde und Schüler die Architekturwunder von Chicago, Brasilia oder Singapur lieber von ihm zeigen als von irgendwelchen Cityguides. Das lag wohl am kulturellen Konsens. Was und wie man im Osten über Planen und Bauen dachte, fand gerade unter Jüngeren seine Wurzeln in „Brunos“ unermüdlichen Lehr- und Leitsätzen: Architektur ist immer nur so gut, wie die Gesellschaft, in der sie entsteht.
Aufgewachsen in Schlesien, nach Kriegsdienst und französischer Gefangenschaft in Berlin gelandet, begann Bruno Flierl 1948 an der Hochschule in Charlottenburg Architektur zu studieren. Noch vor dem Diplom wechselte er in den Ostteil der Stadt, „aus Begeisterung für die Verheißungen der sozialistischen Alternative“. Hier wollte er den Traditionalismus der stalinistischen Baudoktrin überwinden, eine moderne Gesellschaft ohne moderne Architektur war ihm nicht vorstellbar. 1954 kam endlich die baupolitische Wende, in Moskau wurde auf Industrialisierung des Bauwesens orientiert. Mitten in jener Phase baukultureller Neuorientierung wurde Flierl 1962 die Chefredaktion der Fachzeitschrift Deutsche Architektur angeboten. Vom „Tauwetter“ beflügelt, suchte er das proklamierte Neue nicht nur in innovativen Bautechniken, sondern auch in einer Demokratisierung der Planung. Neueste Bauvorhaben wurden von ihm kritisch kommentiert, ästhetische Kontroversen angezettelt, auf Bürgerinteressen bei der Gestaltung ihrer Städte gepocht. Von frechen Disputen junger Absolventen mit dem Bauminister brachte er die Protokolle ins Blatt. Nach drei furiosen Jahren war er den Posten in der Zeitschrift wieder los. Neben zahllosen Sympathisanten hatte er jetzt auch zuverlässige Feinde, im Apparat.
Doch so leicht war er nicht abzuschütteln. In der Abteilung Theorie der Bauakademie gab es Raum für wissenschaftliche Forschung. Waren Publikationsmöglichkeiten rar, brachte er sein undogmatisches Denken in gut besuchten Vorträgen unter die Leute. Aber die Kurve aus zähem Emporarbeiten und jähen Abstürzen schlingerte weiter. 1971 wurde er eine Stunde vor der Vertei­digung seiner Dissertation nach Hause geschickt. Seine Abhandlung über „Industriegesellschaftstheorie im Städtebau“ huldige westlicher Konvergenztheorie, böser Vorwurf: Konterrevolution! Promovierte er eben später. Nach sieben Jahren kam mit der Habilitation die Chance, die politisch gegängelte Bauakademie hinter sich zu lassen. Die Humboldt-Universität bot eine Dozentur für Architektur und Städtebautheorie.
Dann der entscheidende Eklat: 1981 hatte er auf einer gemeinsamen Tagung von Architekten- und Künstlerverband die Planungswillkür der Parteifürsten angeprangert und sich nebenbei über jüngste Ostberliner Repräsentierbauten lustig gemacht. Die aufkeimende Postmoderne prinzipiell ablehnend, fand er die belanglosen Kisten nur mit Ornamenten behängt. So rief er erneut seine Intimfeinde auf den Plan, diesmal würden sie ihn endgültig zur Strecke bringen. Er verlor alle Funktionen im Berufsverband, sein nächster Aufsatz, bereits fertig gedruckt, wurde aus dem Verkehr gezogen. Die Stelle an der Universität geriet ins Wanken. Da erlitt er, siebenundfünfzigjährig, einen Schlaganfall. Spöttisch nannte sich „Bruno“ fortan Privatwissenschaftler, dank „Rentnerpass“ konnte er endlich alle berühmten Wolkenkratzer der Welt besichtigen – eine Leidenschaft, die dann zu einem ansehnlichen Buch führte.
Der neudeutschen Hauptstadt indes wollte er diesen Bautypus niemals gönnen – verkörperte der ja Kapitalismus pur, und davor hätte er sein Berlin am liebsten verschont. Als ab 1990 Planungen für die zwei zu vereinenden Halbstädte anstanden, war Bruno Flierl natürlich dabei, denn keiner kannte sich besser aus mit den repräsentativen Räumen und Achsen zwischen Spreeinsel und Alexanderplatz. Dass ausgerechnet das zu DDR-Zeiten konsequent modern geprägte Zentrum Ostberlins aus westlicher Planersicht einer fundamentalen Korrektur unterworfen werden sollte, machte ihm schwer zu schaffen. Gegen den Privatisierungsfuror des retroseligen Senatsbaudirektors Hans Stimmann stritt Flierl für Rationalität und Großzügigkeit in einer Stadt für alle. Er wollte in keine Welt „vor der DDR“ zurück, sondern Berlin für die unabsehbaren Fragen der Zukunft offen halten. Doch ob in den Stadtforen oder beim zähen Kampf gegen Hans Kollhoffs auftrumpfende Hochhausorgie am Alexanderplatz – Flierls Stimme erklang mit der Zeit immer einsamer. Zwar bestellte die Bonner Enquete-Kommission bei ihm einen Bericht über das DDR-Bauwesen, doch wanderte der unangehört ins Protokoll. In der Internationalen Expertenrunde, die 2002 über die Nachfolge des Palastes der Republik befinden sollte, stemmte er sich mit zahlreichen Minderheitsvoten gegen eine Replik des Hohenzollernschlosses; wohl ahnend, dass er genau dafür in der hochkarätigen Runde zugelassen war – als Feigenblatt, die unvermeidliche „Stimme des Ostens“.
Bruno Flierl war überzeugter Sozialist, aber er war kein Revolutionär. Er setzte auf die Kraft rationaler Argumente, hoffte stets auf die Einsicht einer belehrbaren Obrigkeit. Was ihm in der DDR den Ruf eines aufrechten Freigeistes eintrug, funktionierte nach den Spielregeln der Westgesellschaft nicht mehr. Die erwies ihm alle Ehren, für seine Klugheit, Charme und Höflichkeit.
Für Verdienste in einer vergangenen Zeit. Jetzt nur noch Zuschauer zu sein fiel ihm ungeheuer schwer: „Wie soll ich mich noch Architekturtheoretiker nennen, wenn ich für diese Gesellschaft keine Theorie mehr habe?“ Rückblickend sah er keinen Grund, verbittert oder enttäuscht zu sein: „Einfach realistisch. Geschichte ist eben so.“ Immerhin, 96 höchst aufregende Jahre waren ihm vergönnt, einem rastlosen Zeugen des Jahrhunderts der Moderne, der in der Nacht vom 16. zum 17. Juli in einem Berliner Altenheim verstarb.

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