Bauwelt

Ernst Gisel

1922–2021

Text: Lederer, Arno, Stuttgart

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    Foto: Ralph Hut

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Ernst Gisel

1922–2021

Text: Lederer, Arno, Stuttgart

Wer heute ein Architekturbüro besucht, dem stellt sich die Frage, ob man in Anlehnung zum Begriff der „ Apparatemedizin“ nicht auch von einer „Apparatearchitektur“ sprechen könnte. Mitarbeitern, denen man rät, es einmal mit einem 6B zu versuchen, könnten meinen, man empfehle ihnen einen Shortcut, der helfe, das Zeichnen zu beschleunigen. Den 6B-Stift, jener mit der ganz dicken Mine, benutzt kaum noch jemand. Die dicken Striche, die dabei auf dem Papier entstehen, sind das Gegenteil von dem, was der Computer uns millimetergenau abverlangt. Die Meister, die ausschließlich mit Hand und Stift ihren Entwurf entwickelten, gibt es kaum noch. Aber ihre Werke beweisen, dass die Architektur nicht besser, wenn überhaupt, nur etwas anders geworden ist. Ein Blick auf das Werk des Schweizer Architekts Ernst Gisel lehrt dieses Postulat eindrücklich. Es sind Bauten von einer hohen Individualität, nie „lärmig“ oder einer Mode folgend.
Diejenigen, die über ihn geschrieben haben, bezeichneten ihn gerne als Baumeister, als einen, der mit der Theorie wenig am Hut hat. Es gibt von ihm auch keine Äußerungen dazu, weshalb er im architektonisch-akademischen Diskurs eine geringere Wertschätzung erfuhr als jene Zeitgenossen, die in Texten und in Medien die Architektur im Sinne des Fortschritts voranzubringen versuchten. Ähnlich wie bei Sigurd Lewerentz oder Alvar Aalto, der darauf hinwies, dass es die Gebäude selbst sind, die vom Denken, Wissen und Fühlen ihres Urhebers berichten, ist es bei Gisel das gebaute Werk, dem diese unmittelbare Botschaft innewohnt.
Wer ihm beim Entwerfen zuschauen durfte, wurde von einer Begabung des Architekten überrascht, die heute durch die Existenz digitaler Werkzeuge eine seltene Ausnahme darstellt: In der rechten Hand einen dicken Bleistift, in der linken Hand ein Lineal, das Blatt davor noch leer. Wie ein kleiner Hund begann nun der 6B-Stift, als zeigte ihm das Lineal den Weg, seine Spur nach vorne, links oder rechts auf dem Skizzenpapier abzubilden. Kurz darauf hatte Gisel den Grundriss als räumliches Konstrukt maßgerecht und perfekt organisiert, erarbeitet.
Für viele Architektinnen und Architekten aus Gisels Generation begleitet das Malen und freie Zeichnen als ständiger und unverzichtbarer Begleiter die Arbeit am Reißbrett. Ähnlich wie Geoffrey H. Baker die Skizzen von Corbusier als eine Art kreative Forschung beschreibt, dürften die Zeichnungen und Aquarelle aus Gisels Hand nicht eine nette Freizeitbeschäftigung gewesen sein, sondern als Wechselwirkung zwischen beiden Tätigkeiten das architektonische Werk beeinflusst haben. Vor allem bei den Kirchen, die er bauen konnte und insbesondere deren Türmen ist die Grenze zwischen Kunst und Architektur fließend. Sie sind eigentlich Arbeiten, die ebenso als ein bildhauerisches Werk betrachtet werden können und deshalb, auch wenn die Moderne das für sich so nicht sehen wollte, ein Stück Kunst. Einer Kunst, die wie so oft, in der Wahrnehmung nicht immer uneingeschränkte Zustimmung erhielt.
Gisels Kunst ist, wie die Kargheit seiner sprachlichen Mitteilungen, direkt, knapp, mit wenigen Strichen oder Worten, hintersinnig und im besten Falle „knitzig“. Sie verleitet auch nicht zu Ausdrucksformen, die ohne Rücksicht auf Handwerk oder Technik ein Eigenleben führen. Im Gegenteil: Die Deckenkonstruktionen etwa der Kirchenbauten zeugen von einem gekonnten Umgang mit dem Tragwerk, seien es Trägerroste oder, ganz ausgeprägt, ein hängendes Dach, das er mit Frei Otto in der Kirche in Stuttgart-Sonnenberg (1965) realisieren konnte. Und so, wie er die Ingenieurleistung kongenial in den Entwurf zu inte­grieren wusste, wurden auf der anderen Seite Künstler in das Schaffen einbezogen.
Nach seiner Vorstellung fiel dem Gebäude, das er zu entwerfen hatte, die Aufgabe zu Ort zu sein, fast wie städtischer Organismus im Kleinen. 1951 hatte Aalto mit dem Rathaus in Säynätsalo vorgeführt, wie in einer heterogenen Umgebung mit einem Gebäude eine Art Zentrum oder Mitte geschaffen werden kann. Dort ist es der große geschlossene Hof, der sich durch die Anordnung der Gebäudeflügel ergibt. Aalto zeigte, wie aus einem Nicht-Ort ein Ort wird, die Gemeinde eine Mitte erhält: diese Typologie hat Gisel, geleitet von seiner Vorstellung sozialer Bedürfnisse einer Gemeinschaft, vor allem bei den größeren Aufgaben immer wieder verfolgt, so zum Beispiel bei der Schule Letzi in Zürich, dem Studierendenzentrum in Mainz, der Sonnenkirche in Stuttgart und – in geradezu perfekter Art und Weise – beim Rathaus in Fellbach (1986).
Gisels Häuser künden unmittelbar von seiner Person: nicht gefällig sein wollend, sondern unverstellt, manchmal – was ihre Gestalt dauerhaft macht – den zweiten Blick bedingend. Authentisch wie selten ein Werk, nicht kopierfähig, sondern einmalig. Angesichts der polyglotten Architektursprache, der sich das Kapital weltweit bedient, ein Umstand, der zum Nachdenken zwingt – und uns zum Weiterdenken auffordert. Ernst Gisel verstarb kurz vor seinem 99. Geburtstag, am 6. Mai in Zürich.

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