Paris – zwischen Flüchtlingsnot und Staatsraison
Frankreich nimmt nur wenige Flüchtlinge auf und ignoriert die katastophalen Zustände in den wilden Camps im Norden des Landes. Seit der „Dschungel von Calais“ im Oktober geräumt wurde, stranden immer mehr Menschen in Paris. Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat sich trotz massiver Widerstände der Flüchtlingsunterbringung angenommen und kürzlich das erste Auffanglager der Stadt eröffnet
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Paris – zwischen Flüchtlingsnot und Staatsraison
Frankreich nimmt nur wenige Flüchtlinge auf und ignoriert die katastophalen Zustände in den wilden Camps im Norden des Landes. Seit der „Dschungel von Calais“ im Oktober geräumt wurde, stranden immer mehr Menschen in Paris. Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat sich trotz massiver Widerstände der Flüchtlingsunterbringung angenommen und kürzlich das erste Auffanglager der Stadt eröffnet
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Ende November 2016 veröffentlichte das französische „Centre Primo Levi“ einen Bericht zur Asylpolitik. Die Zahlen des Vereins, der sich Opfern von Gewalt und Folter widmet, ergeben, dass im Jahr 2015 in Frankreich 62.000 Anträge auf Asyl gestellt wurden. Mehr als 42.000 davon wurden abgelehnt. Nach Aussagen der Geschäftsführerin Eléonore Morel liegt das daran, dass gerade die Flüchtlinge, die in ihrer Heimat und auf der Flucht am meisten gelitten haben, am wenigsten in der Lage sind, ihren Fall kohärent zu schildern. Das führt zu der großen Zahl von negativen Bescheiden, die wiederum das Vorurteil bestärken, ein Asylsuchender sei zuallererst jemand, der lügt, oder ein Wirtschaftsflüchtling, der eigentlich keine Hilfe braucht. Eléonore Morel zieht aus der Untersuchung den Schluss: „In Frankreich herrscht ein Klima der Ungastlichkeit“.
Nun geht es hier nicht darum, auf den Hintergrund dieser erschreckenden Bestandsaufnahme einzugehen. Interessant sind die Zahlen dennoch. Man kann ihnen entnehmen, dass die Ausgangslage für die „Flüchtlingsdiskussion“ bei unseren Nachbarn völlig anders ist: Es gibt einfach viel weniger Flüchtlinge in Frankreich. Über den Daumen gepeilt liegen die Ankunftszahlen um 90 Prozent niedriger als in Deutschland.
Von Sangatte und Calais in die Provinz
Wer in Frankreich von Flüchtlingen spricht, meint den Norden des Landes, Sangatte, Calais, la Grande-Synthe und Dunkerque, den mitlerweile europaweit bekannten „Dschungel“ und die vielen kleinen Camps an der Kanalküste. Mit Architektur hat das zunächst einmal gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Der französische Staat musste per Gericht dazu gezwungen werden, wenigstens die Bestimmungen der Genfer Konvention zu respektieren und den Flüchtlingen humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Auch als zwischen Calais und Dunkerque – in der Gemeinde La Grande-Synthe – das Notlager aus Zelten mit seinen 3000 Bewohnern vollständig im Schlamm zu versinken drohte, rührte sich nichts. Erst als der Bürgermeister die Médecins sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) um Hilfe bat, wurde das erste Lager mit Modulunterkünften errichtet, 213 Einheiten aus Holz mit Heizung, finanziert von der Ärzteorganisation. Das war im März 2016. „Eine Premiere in Frankreich“, schrieb Le Monde. Bis Mitte November 2016 blieb „La Grande-Synthe“ die einzige Neukonstruktion eines Flüchtlingslagers in Frankreich.
Während der Bürgermeister Damien Carême von den französischen Grünen sich in La Grande-Synthe um Verbesserungen kümmerte, setzte im Gegensatz dazu seine Kollegin Natacha Bouchart von den konservativen Republikanern in Calais auf Ausgrenzung und Räumung der Lager. So kam es dort im Oktober 2016 in Absprache mit Staatspräsident Hollande zur Räumung des „Dschungels“ und zum Abtransport der Flüchtlinge in die französische Provinz. Auch hier sind die Zahlen aufschlussreich: Es ging an der Kanalküste insgesamt um etwa 10.000 Flüchtlinge.
Paris eröffnet erstes Auffanglager
Nach der Schließung der Lager im Norden Frankreichs konzentriert sich der Zuzug der Neuankömmlinge auf Paris. Dabei stellt sich heraus, dass nicht einmal die Hälfte der Flüchtlinge nach Großbritannien ausreisen wollte oder will. Sie wurden von den Schleppern, die auch in Frankreich ihr Geschäft betreiben, der Einfachheit halber nach Calais geschickt. Dort ließ sich dann auch noch der Transit nach England verkaufen. Nun ist das Ziel der Flüchtlinge also Paris, weil das nun einmal das Zentrum des Landes ist und hier die Entscheidungen getroffen werden.
Als die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo das erste Mal im Sommer 2015 von einem Auffanglager für Migranten in Paris sprach und da-bei den Rand des Bois de Boulogne im 16. Bezirk erwähnte, malten nicht nur ihre politischen Gegner das Menetekel eines neuen „Sangatte in Paris“ an die Wand. Auch ihre Parteifreunde in der Regierung warnten eindringlich davor, solche Überlegungen zu thematisieren. Sie bringe die Wiederwahl der regierenden Partei leichtfertig in Gefahr, hieß es. Noch schlimmer kam es von den gutsituierten Anwohnern des 16. Arrondissements. Unverhohlen drohten sie mit Gewalt, sollte das Zentrum eröffnet werden. So standen die Sozialisten der Stadtregierung mit ihren Anhängern plötzlich den Staatssozialisten und dem Rest der Pariser Bourgeoisie gegenüber.
Dabei war die Idee eines „Centre humanitaire d’acceuil pour réfugiés“ (eines Flüchtlingsaufnahmezentrums) durchaus weitblickend und notwendig, wie sich heute zeigt. Zwar musste das Konzept verändert werden, weil der Widerstand der Anwohner im 16. Bezirk unüberwindbar war. Doch gerade rechtzeitig zur Schließung der Lager an der Küste steht seit Mitte November in Paris eine erste Anlaufstelle für Flüchtlinge zur Verfügung.
Flüchtlingsarchitektur? Fehlanzeige
Etwa 70 Personen pro Tag kommen zur Zeit in Paris an der Porte de la Chapelle an, werden medizinisch versorgt, erhalten Kleidung, Informationen und Rechtsbeistand. Familien und alleinstehende Frauen mit Kindern werden anschließend in eine ähnliche Einrichtung im Süden der Stadt gebracht. Alleinstehende Männer bleiben an der Porte de la Chapelle. Nach maximal zehn Tagen werden alle Ankommenden vom Staat auf Einrichtungen verteilt, die über die Republik verstreut sind, den „Centres d’accueil“. Das sind meist leerstehende Schulen, ehemalige Altenheime, Ferienkolonien und Verwaltungsgebäude, die in staatlichem Besitz sind oder vom Staat angemietet werden. Bei der relativ geringen Zahl von Flüchtlingen scheint das System zu funktionieren.
Allerdings sehen die Erfahrungsberichte sehr unterschiedlich aus, je nach Interessenslage der Verfasser. In einigen Städten gibt es Wartelisten für einheimische Familien, die erschwinglichen Wohnraum suchen, das birgt bekanntlich Konfliktpotenzial. Unabhängig davon ist auch nicht sicher, ob die Flüchtlinge in der Provinz bleiben und sich nicht doch wieder auf den Weg in die Hauptstadt machen.
Neubauten, eine spezifische „Flüchtlingsarchitektur“, gibt es in Frankreich nicht. Weder scheint ein Bedarf dafür gesehen zu werden noch gibt es die Bereitschaft, sich mit dem Problem zu beschäftigen. Man setzt mittel- und langfristig auf Wohnraumbeschaffung über das staatliche System der HLM (Habitation à loyer modéré – sozialer Wohnungsbau), das den Kommunen generell Quoten für Neubauten vorschreibt. Dabei geht es natürlich um kostengünstiges und energiesparendes Bauen, wie in anderen Ländern auch. Das erklärt, warum die Frage nach Wohn- und Baukonzepten speziell für Flüchtlinge oft selbst von Architekten nicht verstanden wird.
Im Park verstecken
Als sich vor einigen Monaten die informellen Zeltlager an der Pariser Porte de Clignancourt und unter den Metrobrücken der Station Stalingrad rapide vergrößerten und wieder einmal geräumt werden sollten, machten Hilfsorganisationen und einige Architekturbüros Vorschläge für eine Alternativlösung. Das Pariser Büro Air-Architectures von Olivier Leclercq wollte zusammen mit den Flüchtlingen auf Brachflächen der Stadt Unterkünfte errichten. Diese sollten aus Abbruchmaterialien – vor allem Holz – im Selbstbau gefertigt werden. Ein Konzept, das das Büro bereits mit Bedürftigen erfolgreich ausprobiert hatte – im Übrigen bevor die chilenischen Beispiele von Alejandro Aravena in Europa Furore machten.
Das Zeltlager an der ehemaligen Eisenbahntrasse an der Porte de Clignancourt wurde jedoch geräumt, bevor die Vorschläge umgesetzt wer-den konnten. Wenn man bedenkt, dass jede Räumung mindestens 300.000 Euro kostet und es davon bereits mehrere gegeben hat, stellt sich die Frage, ob das Geld nicht gewinnbringender und mit längerfristiger Wirkung hätte angelegt werden können. Immerhin: Das Architekturbüro erhielt im Endeffekt den Planungsauftrag für das erste Auffanglager der Stadt Paris am Rand des Bois de Boulogne.
2015 begannen die Studien. Erkundungen des Terrains ergaben, dass bei einer niedrigen zweistöckigen Aneinanderreihung von Holzmodulen auf einer ehemaligen Erschließungsstraße nicht nur die angestrebte Wohnqualität, sondern auch die Vorraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben mit den „Einheimischen“ des 16. Bezirks geschaffen werden könnten. Dafür wurde jeder einzelne Baum vermessen und katalogisiert. Die Natur gab den Maßstab für die Bauhöhe vor. Blickachsen zwischen der bestehenden Randbebauung und den Modulen wurden vermieden. Kurz: Es wurde alles getan, um das Auffanglager in der Natur zu verstecken, doch es half nichts. Die Gebäude konnten zwar errichtet werden, sie dienen heute allerdings nicht den Flüchtlingen, sondern als Winter-Notunterkünfte für „Personen ohne festen Wohnsitz“ (sans domicile fixe). Die sieht man tagsüber nicht. Sie orientieren sich eher zum Bois de Boulogne hin und haben kein Interesse daran, das bürgerliche Wohnviertel zu „belagern“. Das war die Angst, die bei vielen Anwohnern in Bezug auf die ursprünglich vorgesehenen Flüchtlinge herrschte. Sie war nicht zu überwinden. Nach immer aggressiveren Angriffen auf die Gebäude musste für das dringend benötigte „Centre d’accueil“ der Flüchtlinge ein weniger konfliktträchtiger Platz gefunden werden.
Zwischen Straßen und Schienen
Das Auffanglager für ankommende Flüchtlinge wurde schließlich an der „Porte de la Chapelle“ im Norden von Paris errichtet. Ein ehemaliges Lagergebäude der französischen Eisenbahn SCNF zwischen Straßen und Schienen befand sich gerade im Umbau für eine neue Universität, als es der Stadt auffiel. Sie konnte einen Zwischenmietvertrag für 18 Monate aushandeln und beauftragte den Architekten Julien Beller, in nur drei Monaten ein „Centre d’acceuil“ für 400 bis 600 Personen zu errichten. Ein Himmelfahrtskommando. Doch Beller, gerade einmal 38 Jahre alt, hatte bereits Erfahrungen mit Projekten für Menschen in prekären Wohnsituationen in Frankreich und Afrika gesammelt. Dem Lager von Hanul in Saint-Denis, in dem eine Gemeinschaft von Roma unter unmenschlichen Bedingungen lebte, pflanzte er in kürzester Zeit und mit geringen finanziellen Mitteln feste Sanitäreinrichtungen ein und stabilisierte die improvisierten Strukturen.
Mit seinem Studio 6B und dem Verein „No Mad’s Land“ entwarf Beller für das Auffanglager an der Porte de la Chapelle in der Betonskeletthalle eine Ausstattung mit modularen Einbauten aus Holz, dazwischen Inseln, die die Sanitäreinrichtungen und Gemeinschaftsräume aufnehmen. So wurden die immerhin 5000 Quadratmeter Grundfläche in acht Bereiche unterteilt.
Vor dem Gebäude ließ er von dem 84-jährigen deutschen Leichtbau-Veteranen Hans-Walter Müller eine 900 Quadratmeter große aufblasbare Struktur errichten. Sie ist nicht nur das Eingangstor zu dem sechs Hektar großen Gelände, sondern durch die auffallende Form und ihre Farben das optische Erkennungszeichen des Zentrums. Die medizinischen Einrichtungen sind in zusätzlichen Containern untergebracht. Für alle Ein- und Anbauten ist eine Weiterverwendung an anderer Stelle vorgesehen, wenn der Mietvertrag an der Porte de la Chapelle ausgelaufen ist. Bauherr ist übrigens nicht die Stadt, sondern die gemeinnützige Organisation „Emmaüs Solidarité“, die auch die Verwaltung übernommen hat: eine Form von Outsourcing, wie sie bei sozialen Projekten inzwischen üblich ist und in diesem Fall maßgeblich zum Gelingen des Kraftakts geführt hat.
Klima der Ungastlichkeit
Bei der Betrachtung der Gesamtsituation in Frankreich drängt sich die Frage auf, woher die bei unseren Nachbarn weitverbreitete „Un-Gastlichkeit“ kommt. Frankreich hat am Ende des spanischen Bürgerkrieges 500.000 Spanier aufgenommen. 1979 kamen 120.000 Boat People aus Vietnam, Kambodscha und Laos. Das Land ist daran nicht zugrunde gegangen. Jetzt geht es nach Angaben von Jean-François Ploquin, dem Direktor des Forum Réfugiés (Flüchtlingsforum), um 10 oder 20 Personen pro Monat und Département. Glaubt man dem frisch gekürten Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, François Fillon, dann muss man deswegen die Grenzkontrollen ausweiten, mehr Polizisten einstellen und das Schengen-Abkommen neu verhandeln. Es könnte ja ein Terrorist einreisen. In diesem Klima lässt sich nur schwer für Verständnis, Toleranz und Hilfsbereitschaft werben. Da fällt es auch kaum auf, dass man weit mehr für die Neuankömmlinge tun könnte.
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