Riace – Flüchtlinge als Entwicklungsperspektive
Wie viele Dörfer Süditaliens war auch Riace bis in die neunziger Jahre hinein ein schrumpfender Ort. Als 1998 am Hafen ein Boot mit kurdischen Flüchtlingen ankam, machte Bürgermeister Domenico Lucano aus der Not eine Tugend. Er bot Flüchtlingen an, die vielen leerstehenden Häuser zu renovieren. Riace, das Vorzeigedorf der Integration – oder doch nur ein Transitort auf der Reise nach Norden?
Text: De Giorgi, Luca, Bozen
Riace – Flüchtlinge als Entwicklungsperspektive
Wie viele Dörfer Süditaliens war auch Riace bis in die neunziger Jahre hinein ein schrumpfender Ort. Als 1998 am Hafen ein Boot mit kurdischen Flüchtlingen ankam, machte Bürgermeister Domenico Lucano aus der Not eine Tugend. Er bot Flüchtlingen an, die vielen leerstehenden Häuser zu renovieren. Riace, das Vorzeigedorf der Integration – oder doch nur ein Transitort auf der Reise nach Norden?
Text: De Giorgi, Luca, Bozen
Auf den ersten Blick scheint Riace ein gewöhnliches kalabrisches Dorf zu sein. Der historische Ortskern mit seinen verwinkelten Gassen thront auf einem Hügel, von dem aus man das Ionische Meer sehen kann. Doch der Schein trügt. Über Riace wird seit Jahren in der internationalen Presse und in Fernsehbeiträgen berichtet. Es ist das Vorzeigedorf der Integration. Wim Wenders hat 2009 einen Kurzfilm über das Dorf gedreht und es als eine „wahre Utopie” gepriesen. Im Gegensatz zu vielen anderen Dörfern im Süden Italiens nimmt die Bevölkerung seit fünfzehn Jahren wieder zu. Anstatt in die Großstädte Norditaliens abzuwandern, kehren einstige Bewohner zurück in dieses einst fast ausgestorbene Dorf. Neben der wachsenden einheimischen Bevölkerung leben etwa 400 Geflüchtete in Riace und bilden somit fast die Hälfte der Dorfbevölkerung. Wie ist es dazu gekommen? Und wie gelingt das Zusammenleben mit so vielen Neuangekommenen? Mit diesen Fragen fahre ich nach Kalabrien.
Ich sitze in einem alten Palazzo mitten in Riace und schaue durch die Fenster aufs Meer. An der Wand hängen Bilder von Che Guevara. Auf einer Kommode stehen Pokale und Urkunden. Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace, nimmt vor mir Platz. Auf meine Frage hin, wie alles angefangen hat, sagt er nur: „Mir gefällt die Vorstellung, dass dieser verloren geglaubte Traum hier doch noch siegen konnte!” Damit meint er die anarchistischen Sozialutopien der 70er Jahre, denen er als Jugendlicher und Student folgte, bevor diese durch „Tod, Drogen und die Sackgasse des bewaffneten Kampfes“ scheiterten. Desillusioniert verließ er den Süden und ging nach Turin. Doch schon nach einigen Jahren zog es ihn zurück nach Riace. Von den einst 4000 Einwohnern lebten in den neunziger Jahren hier nur noch einige hundert. Die meisten waren in den Norden Italiens oder nach Buenos Aires gezogen, viele auch an den sieben Kilometer südlich gelegenen Hafen. „Doch im Juli 1998 schenkte das Meer den Riacesi eine einzigartige Chance“, sagt Domenico. Ein Segelschiff mit 218 kurdischen Flüchtlingen strandete an der Marina di Riace.
An diesem Tag fährt Domenico zum Strand, um die Kurden zu empfangen. Zusammen mit zwei Freunden setzt er sich für die Menschen ein und bringt sie bei sich zu Hause und in leerstehenden Häusern seiner Verwandten unter. Domenicos Augen funkeln vor Begeisterung Die unterschiedlichen Kulturen treffen im Dorf aufeinander, ohne dass es Probleme gibt. Domenico erkennt das Potenzial dieser Situation. Er gründet den Verein „Città Futura – Giuseppe Puglisi” mit dem Ziel, aus Riace ein Willkommensdorf für Geflüchtete zu machen, die verlassenen Häuser zu renovieren und so das Aussterben des Dorfes zu verhindern.
Sobald Flüchtlinge in Italien ankommen, werden sie in Erstaufnahmeeinrichtungen notversorgt und registriert. Betrieben werden diese meist von NGOs oder Kooperativen, die vom Innenministerium zertifiziert und unterstützt werden. Sobald das Asylgesuch eingegangen ist, werden die Menschen auf die verschiedenen Aufnahmeeinrichtungen im ganzen Land verteilt. Der Großteil kommt in Notunterkünften, den sogenannten CAS (Centri di accoglienza straordinaria) unter, ein weiterer Teil in Gemeinschaftsunterkünften, den CARA (Centri di accoglienza per richiedenti asilo) und ein dritter Teil in einer SPRAR-Einrichtung (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati). Seit 2001 ist Riace Teil des SPRAR-Netzwerkes. Sie kümmern sich um Unterkunft, Verpflegung, medizinische Versorgung, Sprachkurse, Schule und Fortbildung. Im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen bringt Città Futura die Geflüchteten in kleinen Wohnungen im Dorf unter. Hier können sie selbstständig wohnen. Città Futura reicht ein Tagessatz von 35 Euro pro Person aus, das liegt weit unter dem nationalen Durchschnitt. In Riace hat Città Futura etwa 25 Wohnungen gemie-tet und renoviert. Außerdem haben sie acht Werkstätten eingerichtet, in denen die Neuangekommenen handwerkliche Fähigkeiten erlernen und arbeiten können. Mehr als zwanzig Riacesi haben so wieder eine Arbeit gefunden und lange in Vergessenheit geratene Lokaltraditionen – wie die Herstellung von Textilien aus Ginster – leben dabei wieder auf.
Ich frage Domenico, ob es manchmal zu Problemen zwischen den Geflüchteten und den Einheimischen kommt. Die Antwort ist ein klares Nein. Auch der Carabiniere des Dorfes kann mir das später bestätigen. „Selbstverständlich waren in den ersten Jahren viele skeptisch“, meint Domenico, „aber die Riacesi haben schnell erkannt, dass es sich für sie auszahlt, ihr Dorf den Flüchtlingen zu öffnen.“ Was der regionalen und staatlichen Politik nicht gelungen ist, hat Domenico zusammen mit Città Futura geschafft. Noch wichtiger als der wirtschaftliche Aufschwung ist ihm aber das Hinterfragen der eigenen Überzeugungen. Dazu ist man in einem Dorf mit inzwischen 400 Flüchtlingen gezwungen. „Was die Medien uns vermitteln, stimmt nicht“, sagt Domenico, „nach nun fast 20 Jahren des Zusammenlebens ohne Diebstähle, Gewalt oder Drogenprobleme mussten sich das auch die kritischsten Dorfbewohner eingestehen. Die Neuen sind ganz normale Menschen.“
Ich spaziere durch die Gassen von Riace. Aus Häusern dringen die Geräusche spielender Kinder und die Gerüche von frischen Speisen. Auf der Piazza sitzen ein paar alte Riacesi, trinken Espresso und vertreiben sich die Zeit beim Kartenspiel. Am Nebentisch plaudert eine Gruppe Geflüchteter. Ungewöhnlich und unerwartet sind die zahlreichen Murales, die die Gassen des Dorfes mit bunten Akzenten schmücken. Sie zelebrieren das Aufeinandertreffen der Kulturen. Andere gedenken den Desaparecidos – den Opfern der chilenischen Diktatur und der Mafia. Bürgermeister Domenico ist selbst mehrmals ins Visier der kalabrischen Mafia, der ’Ndrangheta, gekommen. Bei den letzten Wahlen wurden seine Hunde vergiftet und zwei Warnschüsse auf ein Lokal abgefeuert, in dem er sich aufhielt. Er hat sich nicht einschüchtern lassen und ist mit der Unterstützung der Riacesi zwei Mal in Folge wieder gewählt worden.
Raffaele, der einen Gemüsestand vor der Dorfkirche hat, erinnert sich genau an die neunziger Jahre, die Zeit, bevor Domenico Bürgermeister wurde. Die Schule, die fast schließen musste, ist dank der neu gekommenen Kinder wieder gut belegt. Raffaele sagt ganz klar: „Seit Domenico zum Bürgermeister gewählt wurde, ist es mit dem Dorf wieder aufwärts gegangen. Mit den Flüchtlingen hatten wir nie Probleme.“ Er zeigt mir einen Riace-Euro. Diese lokale Währung hat Lucano eingeführt, um die Dorfwirtschaft anzukurbeln. Sie wird nur von Geschäften und Lokalen der Gemeinde Riace angenommen. Auch ein Großteil des Geldes, das die Geflüchteten bekommen, wird in dieser Währung ausgestellt. Auf den Scheinen sind die Portraits von Che Guevara, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Opfern des Mafia-Widerstands abgebildet. Das sei eine gute Idee gewesen, meint Raffaele, es hat dazu beigetragen, die Schließung der Cafés und Lebensmittelläden zu verhindern. Die Geflüchteten, mit denen ich über den Riace-Euro spreche, geben sich zurückhaltend. Aber es ist nicht schwer, ihre Meinung zu erraten. Der Riace-Euro zwingt sie dazu, den langen Weg zur Marina di Riace zu gehen. Hier befindet sich der einzige Supermarkt, der diese Währung akzeptiert. Die Alternative sind die Läden in Riace selbst. Aber hier ist alles ein wenig teurer. Außerdem können sie nur über einen kleinen Teil ihres Taschengeldes frei verfügen, um ihn beispielsweise ihren Verwandten zu schicken.
In der Glaswerkstatt treffe ich auf Maria Irene, die schon seit mehreren Jahren für Città Futura als Glashandwerkerin arbeitet. Immer zusammen im Tandem mit einem Geflüchteten, der bei ihr die Herstellung von kleinen Glasobjekten erlernt. Schon seit einem Jahr ist es Rawda aus Somalia. Während sie an einem Objekt aus Kupfer und Glassplittern arbeitet, erzählt die 38-Jährige, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter über Äthiopien und den Sudan nach Libyen flüchtete. Dort zehn Jahre lebte, ihren Mann kennenlernte, eine Arbeit hatte und sich wohl fühlte, doch als der Krieg sie auch dort einholte, flüchtete sie nach Italien, in der Hoffnung, endlich in Frieden leben zu können. Rawda, ihr Mann Osman und ihre sechs Kinder landeten in Riace. Sie hätte längst keine großen Ambitionen mehr, wichtig sei ihr lediglich eine Arbeit und ein sicheres Umfeld für ihre Familie, und genau das habe sie in Riace gefunden. Dafür sei sie dem Bürgermeister sehr dankbar. Nur Osman habe, abgesehen von gelegentlichen Arbeiten bei der Olivenernte, keine feste Anstellung gefunden. „Dafür ist er daheim bei den Kindern und kocht für alle.“
Die Ausbildung, die ein Einwanderer in Italien benötigt, sollte sich wohl kaum auf die Produktion von Glasbäumchen beschränken. In der kleinen Welt von Riace scheint das zu funktionieren, da Città Futura den Sprung zu nationaler und internationaler Bekanntheit geschafft hat. Die Marke Riace/Città Futura ermöglicht es, die Produkte der Werkstätten relativ gut zu verkaufen, aber eine Patentlösung für Gemeinden, die in Riaces Fussstapfen treten wollen, gibt es nicht. Außerdem gibt es zu wenige Arbeitsplätze in den Werkstätten; ich treffe mehrere junge Männer, die einen gelangweilten Eindruck machen. Abdul, 28 aus Somalia, erklärt mir, er sei den ganzen Tag beim Fußball, abends dann an der PlayStation. Arbeit ist eines der größten Probleme, vor dem Città Futura und die italienische Migrationspolitik stehen. Wie schafft man Arbeitsplätze für Geflüchtete, wenn selbst die italienische Jugend aus Mangel an Arbeit das Land verlässt? Jahrelang hat man diese Frage ignoriert und den Geflüchteten die Weiterreise nach Deutschland und Nordeuropa leicht gemacht. Doch mit der Verschärfung der Grenzkontrollen in den letzten Jahren wird dies immer schwieriger. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Gesamtbevölkerung das erste Mal seit 90 Jahren ab, und das Durchschnittsalter steigt an. Stimmen, die in der Einwanderung eine Lösung für den drohenden Kollaps des Rentensystems sehen, werden lauter.
In der Gemeinde Riace sind neben Città Futura weitere Vereine aktiv. Schätzungsweise hundert Wohnungen werden in Riace von Geflüchteten bewohnt. Auch benachbarte Dörfer wie Caulonia, Stignano und Camini wollen dem SPRAR Programm beitreten und nehmen Menschen auf. Zweifellos lohnt sich das für Dörfer mit ähnlichen strukturellen Problemen, sowohl wirtschaftlich als auch sozial. Und auch für Geflüchtete ist die Unterbringung in Wohnungen von Vorteil. Sie fördert die Interaktion mit den Einheimischen und schafft Privatsphäre. Dennoch ist Riace ein Transitort. Viele bleiben nur etwa ein Jahr dort. Sobald ihr Status anerkannt ist, ziehen sie weiter in den Norden. Domenico breitet mit einem Seufzer die Arme aus. Es freut ihn aber, wenn sich jemand dauerhaft in Riace niederlässt, wie beispielsweise Bahram – einer der Kurden, die 1998 am Strand von Riace gelandet sind und der jetzt die italienische Staatsbürgerschaft bekommen hat. Oder wenn Flüchtlinge und Einheimische zueinander finden, vielleicht sogar heiraten. „Dies ist die Botschaft von Riace“, sagt er. „Es zahlt sich aus, offen zu sein.”
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