Bauwelt

Flächenkunst wird Architektur

Ausstellung in der Kestner Ge­sellschaft zum hundertjährigen Jubiläum El Lissitzkys in Hannover

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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El Lissitzkys „Ansager“, Figur aus der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von M. W. Matjuschin.
Foto: Peter Cox

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El Lissitzkys „Ansager“, Figur aus der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von M. W. Matjuschin.

Foto: Peter Cox


Flächenkunst wird Architektur

Ausstellung in der Kestner Ge­sellschaft zum hundertjährigen Jubiläum El Lissitzkys in Hannover

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Im frühen 20. Jahrhundert haben viele Künstler mit speziellen Raumideen experimentiert. Erstaunlich produktiv war der aus Westrussland gebürtige El Lissitzky (1890–1941): Innerhalb von vier Jahren entwarf und realisierte er drei derartige Konzepte. 1923 war es der „Prounenraum“ für die Große Berliner Kunstausstellung, 1926 der erste „Demonstrationsraum“ für die Internationale Kunstausstellung in Dresden und 1927 das interaktive „Kabinett der Abstrakten“ im Provinzialmuseum Hannover. 1937 unter dem NS-Regime zerstört, ist es nach einigen provisorischen Rekonstruktionen 2017 im Sprengel-Museum Hannover wiederauferstanden (Bauwelt 10.2017).
Bereits 1923 folgte El Lissitzky der Einladung zu einer Ausstellung in die sich progressiv verstehende Kestner Gesellschaft in Hannover. Sie wurde die erste Personale des Russen, zugleich die Premiere von zwei Grafik-Editionen, der „Kestner-Mappe“. Darunter waren zehn Lithografien der Figurinen und einer „Schaumaschinerie“ zur elektromechanischen Inszenierung der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ von M. W. Matjuschin. Die „Spielkörper“ genannten Puppen galten Charakteren: der Ängstliche etwa, der Zankstifter, der Ansager. Nur sieben Jahre nach der Gründung des großbürgerlichen, alternativen Kunstvereins war El Lissitzkys Auftritt ein inhalt­licher Paukenschlag, denn er formulierte nichts weniger als ein neues künstlerisches Vokabular. Angelehnt an die spirituell grundierte, radikal gegenstandlose Malerei des Suprematismus von Kasimir Malewitsch erstrebte Lissitzky eine Kunst der erweiterten und reinen Sinneserfahrung, die er, als in Darmstadt und Moskau ausgebildeter Architekt und Konstrukteur, vorrangig in der räumlichen Dimension realisiert sah.
Hannover wurde für El Lissitzky eine wichtige Station seines Lebens: Er erhielt Atelier und Quartier über der Kestner Gesellschaft, wurde mit typografischen und werbegestalterischen Aufträgen ausgestattet, er lernte in Sophie Küppers, der Witwe des ersten Direktors der Gesellschaft, seine zukünftige Ehefrau kennen, sowie einige gutsituierte Wohltäter, die dem schwer an Tuberkulose Erkrankten einen Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz finanzierten und ihm so möglicherweise das Leben retteten.
An dieses hundertjährige Jubiläum El Lissitzkys in Hannover knüpft nun eine Ausstellung in der Kestner Gesellschaft an. Sie umfasst wohl mehr als hundert Werke und versteht sich als Selbstvergewisserung eines ungebrochen progressiven Anspruchs der Institution. Dass die Besucherinnen eine das eigene Assoziationsvermögen beständig fordernde Fülle erwartet, versteht sich bei den Ausstellungen von Kestner-Hausherrn Adam Budak von selbst. Aber, so wird sich der eine oder andere Besucher dann doch vor so manchem Werk fragen: Was will uns das denn nun zu El Lissitzky sagen?
Die Ausstellung überzeugt dort, wo sie sich dokumentierend sowie thematisch erweiternd dem historischen Phänomen El Lissitzky annimmt. Schön etwa, dass nach der großen von 1988 im Sprengel-Museum nun neuerlich die Rekonstruktion seines Prounenraumes betreten werden kann, eine Leihgabe aus dem Van Abbemuseum in Eindhoven. Proun (ausgesprochen Proun) bedeutete für El Lissitzky die „Umsteigestation“ von der Flächenkunst in die (zweckfreie) Architektur.

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