Bauwelt

Fremde überall

Auf der Kunstbiennale in Venedig erzählt Ersan Mondtags Inszenierung im deutschen Pavillon die Geschichte eines türkischen Gastarbeiters in einem beklemmenden Haus. Zahlreiche Beiträge setzen sich mit dem Begriff des Fremdseins auseinander.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

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    Ersan Mondtag: Monument eines unbekannten Menschen, 2024. Installationsansicht aus dem Deutschen Pavillon auf der 60. Internationalen Kunstausstellung in Venedig.
    Foto: Andrea Rossetti

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    Ersan Mondtag: Monument eines unbekannten Menschen, 2024. Installationsansicht aus dem Deutschen Pavillon auf der 60. Internationalen Kunstausstellung in Venedig.

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Fremde überall

Auf der Kunstbiennale in Venedig erzählt Ersan Mondtags Inszenierung im deutschen Pavillon die Geschichte eines türkischen Gastarbeiters in einem beklemmenden Haus. Zahlreiche Beiträge setzen sich mit dem Begriff des Fremdseins auseinander.

Text: Schulz, Bernhard, Berlin

Ein ganzes Leben läuft vor den Augen der Besucherin ab. Ein ganzes Leben, eingesperrt in ein Haus, das so etwas wie die ganze Welt meint – im Erdgeschoss die Fabrik, darüber die Wohnung, ganz oben der Friedhof. Es ist das Leben eines Mannes aus der Türkei, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, hier sein Geld verdiente und noch vor der Rente verstarb.
Der Mann, der stellvertretend für eine ganze Generation von Arbeitsmigranten steht, ist einer der Großväter von Ersan Mondtag. Der Theaterregisseur aus Berlin hat die Inszenierung erdacht, als eines der drei künstlerischen Vorhaben, mit denen sich Deutschland auf der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig präsentiert. Zwei der Projekte werden im deutschen Pavillon in den Giardini gezeigt. Das dritte findet auf der unbewohnten Insel Certosa statt, die man nur erreicht, wenn man dem Bootsführer des Vaporetto sagt, dass man dort aussteigen möchte.
Ersan Mondtag hat ein Haus ins Haus bauen lassen, eine mit braunem Kratzputz versehene Architektur, die sich in den Mittelsaal des Pavillons einfügt. Doch nicht mit der nazistischen Vergangenheit des Pavillons beschäftigen sich die von der Baden-Badener Kunsthallendirek­torin Çağla Ilk unter dem Titel „Thresholds“ versammelten Künstler diesmal – neben Mondtag noch Yael Bartnana, Michael Akstaller, Nicole L’Huillier und Jan St. Werner. Ersan Mondtag hat stattdessen mit der Geschichte seines Großvaters, der zum Geldverdienen nach West-Berlin gekommen war und dort sein Leben beschloss, eine eindrucksvolle künstlerische Ausformung des Biennale-Mottos „Stranieri ovunque“, „Fremde überall“ geschaffen. Schauspielerinnen, in vergraute Kleider gehüllt, spielen die Stationen dieses Lebens nach, vom Aufstehen und Anziehen über die Arbeiten, die die stets übersehenen Frauen in Küche und Haushalt verrichten, bis eben zu Tod und Begräbnis auf dem Flachdach des Hauses. Das ist beklemmend, nicht zuletzt wegen dieses klaustrophobischen Häuschens mit seiner metallenen Wendeltreppe, auf der die wenigen eingelassenen Besucher der Performance einander ausweichen.
Nicht viele werden Gelegenheit finden, dieses in wenige Minuten gedrängte Leben nachzuvollziehen. Allein das Haus mit seiner verdreckten Einrichtung, dazu die von Staub geschwängerte Luft werden den meisten Biennale-Besuchern zur Anschauung bleiben. Das Haus aber, eher Trutzburg als Einfamilienglück, spielt stumm und doch beredt seine Rolle in dieser Inszenierung.
„Stranieri ovunque“, dieses von dem französischen Künstlerinnenduo „Claire Fontaine“ verbreitete Motto, hat der Brasilianer Adriano Pedrosa als Generalkommissar dieser 60. Biennale zum Leitmotiv erhoben. Er will, so erklärte er unablässig, gleich vier Kategorien von „Fremden“ zur Sichtbarkeit verhelfen: den Fremden im landläufigen Sinne, den Queeren, den Außenseiterinnen der Kunst, ob Folk Artists oder Amateure, und schließlich den Indigenen, die zumeist als „Fremde im eigenen Land“ marginalisiert seien. Ein so umfassender Fremdheitsbegriff hat zur Folge – und Pedrosa sagt es selbst –, dass sich im Grunde ein jeder und überall als Fremder fühlt. Und da – das sagt er nun nicht – im Zuge der gegenwärtigen Moralwelle jede und jeder ein „Opfer“ sein will. Das strahlt auf die Pavillons ab. Doch ungewollt ist allein derjenige Pavillon zum Fremdkörper geworden, den eine nicht zu übersehende Koalition von Politaktivisten gleich ganz aus den Giardini verbannen würde: der israelische. Ihn haben Kurator und Künstlerin Ruth Patir gar nicht erst geöffnet, sodass er als ein von Soldaten bewachtes stummes Mahnmal dasteht.
Adriano Pedrosa hat nicht die nationalen Beiträge zu verantworten, die mit 88 eine neue Höchstzahl erreicht haben und in Außenposten die halbe Stadt bespielen. Der Generalkommissar steht für den Zentralpavillon ein und für die 500 Meter lange Seilerei im Arsenal. 331 Künstlerinnen und Künstler hat er ausgewählt, auch dies eine Rekordzahl.
In zwei „historischen“ Abteilungen widmet sich Pedrosa den nicht-westlichen Modernismen in der Malerei und unterteilt sie in „Abstraktion“ und „Porträt“. Aus dem indonesischen Bandung oder Bagdad, aus Haiti oder dem indischen Shimla stammen die Künstlerinnen, und von ihnen sind eindrucksvolle Schöpfungen zu sehen. Was aber – und diesen Umkehrschluss zieht Pedrosa nicht – nur die Vorbildfunktion der westlichen Moderne unterstreicht: Ihr entgeht in der globalisierten Welt niemand.
Wer ihr entgehen konnte, sind die Schöpfer anderer Medien: Das Textile steht diesmal hoch im Kurs. So ging der Goldene Löwe für den besten Einzelbeitrag an das Mataaho Collective, eine Gruppe von Maori-Frauen, die im Eingang der Corderie über den Köpfen eine Art Fangnetz gespannt haben.
Dabei gibt es in den Nationalbeiträgen höchst Sehenswertes: So im österreichischen Pavillon, in dem die 1989 noch aus der Sowjetunion emigrierte Anna Jermolajewa eine ebenso politische wie poetische Lektion über Diktaturen und Exil erteilt. Oder bei Saudi-Arabien, wo Hunderte Frauen auf Einladung von Kuratorin Manal Al-Dowayan Texte über sich und ihr Leben geschrieben haben, die, auf textile Fahnen gesiebdruckt, den Saal durchziehen. Intelligent ist der ser­bische Beitrag von Aleksandar Denić, der unter dem Titel „Exposition coloniale“ die ephemeren Architekturen versammelt, die den Migranten beim Weg aus dem Balkan begegnen; Telefonzellen, Getränkeautomaten, eine schäbige Imbissbude, in der eine Jukebox ausschließlich Musik mit „Europa“ im Titel bereithält.
Bleibt ein Beitrag zu erwähnen, der so stark ist, dass er es allein mit nahezu der gesamten Biennale aufnehmen kann: der des Vatikan. Chiara Parisi und Bruno Racine vom Pariser Centre Pompidou haben auf Einladung von Kardinal Tolentino sieben Künstler und Künstlerinnen ausgewählt, die im Frauengefängnis von Venedig ausstellen, einer Vollzugsanstalt mit achtzig Insassinnen. Zwanzig von ihnen fungieren als Führerinnen für jeweils 25 Besucher pro Gruppe unter Polizeiaufsicht. In dem brüchigen Gemäuer der auf der Giudecca-Insel versteckten Anstalt entfalten die Arbeiten eine Kraft, die im Routinebetrieb der Biennale kaum noch denkbar wäre.

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