Gartenland abgebrannt? Das Dorf in China
Die New York Times berichtete 2014, dass seit der Jahrtausendwende in China jeden Tag 300 Dörfer verschwanden. Stimmt das? Und was bedeutet dies für die Volksrepublik?
Text: Kögel, Eduard, Berlin
Gartenland abgebrannt? Das Dorf in China
Die New York Times berichtete 2014, dass seit der Jahrtausendwende in China jeden Tag 300 Dörfer verschwanden. Stimmt das? Und was bedeutet dies für die Volksrepublik?
Text: Kögel, Eduard, Berlin
Die liberale New Yorker Tageszeitung berief sich dabei auf eine Untersuchung der Tianjin Universität. Anders als der Bericht suggeriert, sind die Dörfer jedoch nicht einfach „verschwunden“. Sie wurden eingemeindet, umgewidmet und zum Teil sicher auch zerstört, um im Einzugsbereich der Städte neue Bauprojekte zu ermöglichen. Ein ähnlicher Prozess fand in Mitteleuropa während der Industrialisierung statt. China war über Jahrhunderte eine Agrargesellschaft, deren Selbstverständnis sich aus diesem Umstand speiste. Nicht umsonst gewannen Mao Zedong und seine Mitstreiter ihren politischen Kampf auf dem Land. Daraus resultierte eine Politik, die der Landbevölkerung mit Propaganda, Kampagnen und Kollektivierung eine neue Bedeutung versprach. Zuerst wurde die Verfügung über den Boden geregelt, der bis heute auf dem Land den Kollektiven gehört und in der Stadt dem Staat. Wird ein Dorf eingemeindet, verliert es seine Verfügungsgewalt über den Boden und die Bewohner werden oft sehr billig abgespeist. Für die Stadt wiederum sind die Einnahmen aus dem Boden-Leasing für Bauprojekte die einzige substanzielle Einnahme, da fast alle Steuern an die Zentralregierung in Peking gehen. Ab 1958 griff die Haushaltsregistrierung, das Hukou-System, das die Freizügigkeit aufhob und jeden an seinem Wohnort als Stadt- oder Landbewohner registrierte. Vom „Großen Sprung nach Vorne“ über diverse Kampagnen gegen vermeintliche Feinde bis hin zur „Großen Kulturrevolution“ betrafen die Konsequenzen sowohl die Stadt- wie die Landbevölkerung gleichermaßen. Mit der wirtschaftlichen Öffnung Ende der siebziger Jahre verbesserte sich die Lage der Bauern, da sie ihre Produkte auf dem Markt anbieten konnten. Aus den Kollektiven lösten sich bäuerliche Familienunternehmen, die mit ihrer kleinteiligen Land- und Gartenwirtschaft weite Teile der Versorgung sichern konnten. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung an der Küste zogen die Bauern als billige Arbeitskräfte in die Städte, um dort mehr Geld zu verdienen. Diese erhielten jedoch bis heute keinen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsvorsorge oder Bildung, so dass sie ihre Kinder auf dem Land bei den Großeltern lassen müssen.
2013 kündigte die Führung an, bis 2025 noch einmal 250 Millionen Bauern in die Städte zu bringen. Damit geht ein dramatischer Verlust einer bis vor wenigen Jahren agrarisch geprägten Gesellschaft einher, der nicht nur das Selbstverständnis der Nation verändert, sondern neben den bekannten Problemen des Wachstums der Megastädte auch die Frage des Umgangs mit den ländlichen Kulturräumen nach sich zieht. Die Ausgangslage ist bekannt: die junge, aktive Bevölkerung hat das Land verlassen und verdingt sich als Wanderarbeiter mit unsicherem Aufenthaltsstatus in der Stadt. In einem Land ohne Freizügigkeit heißt das, dass die Alten und die Kinder auf dem Lande all zu oft sich selbst überlassen bleiben. Von beiden Bevölkerungsgruppen kann keine Innovation ausgehen, die jedoch für die Zukunft der ländlichen Räume bitter nötig ist.
2011 gilt als Jahr, an dem die Urbanisierungsrate in China die fünfzig Prozentmarke überschritt. Die jungen Leute ziehen weiter in die Stadt, da sie bei den Großeltern keine Zukunft sehen. Ihre Eltern kennen sie nur vom jährlichen Besuch zum Neujahrfest, was der traditionell wichtigen Beziehung zwischen den Generationen schweren Schaden zufügt. Werden diese Kinder einmal tatsächlich so ihre abwesenden Eltern unterstützen, wie die jetzige Generation von Wanderarbeitern, die mit ihren Rücküberweisungen oft das Leben ganzer Dörfer sichert? Zweifel sind angebracht. Die Problematik zwischen den Generationen und zwischen Stadt und Land treibt die politische Führung um. Schon 2006 beschloss der Nationale Volkskongress eine „Neue Sozialistische Landwirtschaft“ einzuführen und „Neue Sozialistische Dörfer“ zu bauen, um damit die Differenz der Lebensverhältnisse anzugleichen. Alte Dörfer werden seitdem abgerissen um Ackerland zu gewinnen, die Bewohner werden in kompakte, mehrgeschossige Bauten umgesiedelt. Von der in Jahrhunderten gewachsenen Kulturtradition bleibt dabei wenig erhalten.
Der Künstler und Kurator Ou Ning aus Peking kaufte 2010 ein Haus im Dorf Bishan in der Provinz Anhui und zog 2013 mit seiner Familie dort ein. Er versucht, die lokalen Ressourcen auszuloten und junge Leute anzuhalten, im Dorf zu bleiben oder zurückzukehren. Bislang mit mäßigem Erfolg: kein junger Wanderarbeiter kam zurück – und auch die Offiziellen sind misstrauisch. Das von Ou Ning und einigen Kollegen 2012 veranstaltete „Harvestival“ verboten sie einen Tag vor der Eröffnung. Man versteht die Künstler nicht und ist unsicher, was sie im Dorf wollen. Nach Ou Ning gibt es heute über 200 Projekte in Dörfern, die von Künstlern und Aktivisten initiiert, versuchen die lokale Kultur zu dokumentieren, neue Einkommensquellen zu erschließen und so der Bevölkerung eine Teilhabe an der ökonomischen Entwicklung zu ermöglichen. Im Falle von Ou Ning entzog ihm allerdings die lokale Gemeinschaft dieses Jahr die Versorgung mit Wasser und Strom, vermutlich weil man subversive Strategien vermutet, die lokale Kader als Bedrohung empfinden. In Bishan hofften Ou Ning und seine Freunde die ländlichen Traditionen zu erneuern und junge Leute zu inspirieren, auf dem Land zu bleiben. Aber die Bauern haben anderes im Sinn. Sie wollen mehr Investitionen und versuchen auf ihre Weise an ökonomischen Entwicklungen teilzuhaben. Wenn sie dazu ihr Dorf den reichen Städtern verkaufen müssen und sie selbst in ein neues Gebäude im nächsten Markflecken ziehen können, wäre das in ihren Augen ein Erfolg. Oder sie erhoffen sich, das Dorf in eine Touristenattraktion zu verwandeln, für die man Eintritt bezahlt und wo die ehemaligen Dörfler kostümiert vor den Besuchern auftreten. So etwas wäre in ihren Augen ein Fortschritt und nicht ein kleines Bed & Breakfast, in dem sie nebenbei noch selbst eingelegte Gurken verkaufen sollen.
Das MIN-Projekt aus Shanghai, eine Initiative junger Aktivisten, unterstützt genau solche Projekte. Die Mitglieder fahren in ihrer Freizeit aufs Land, um vor Ort zu analysieren wie sich Produkte und Angebote in der Stadt besser vermarkten lassen. Dazu richten sie Webseiten ein und vertreiben Erzeugnisse der Bauern. Vor dem Hintergrund der extremen Wasser-, Luft- und Bodenverschmutzungen mit immer neuen Lebensmittelskandalen, gewinnt bei der städtischen Mittelschicht eine direkte Vermarktung mit Qualitätskontrolle langsam an Bedeutung. Aber gemessen an der Größe des Problems, sind das nur Tropfen auf den heißen Stein.
Heute ist es der Tourismus, der die ländlichen Räume in ihrem Charakter erhalten möchte, da-mit sie so für die urbane Mittelklasse attraktiv bleiben. Dabei gibt es wiederstrebende Interessen. Dort, wo kommerziell in großem Maßstab neue Landwirtschaftsindustrien aufgebaut werden, ist das Interesse gering, für den Erhalt der als rückständig empfundenen dörflichen Kultur einzutreten. Man möchte Anschluss an die große Stadt und sichtbare Zeichen einer neuen Zeit. Die Architekten sind hier besonders gefordert, mit angepassten Projekten die Erwartungen der lokalen Bevölkerung zu erfüllen und gleichzeitig Signale des Fortschritts auszusenden. Sie brauchen vor Ort Fürsprecher, denn neben einer ästhetischen Lösung zum Erhalt kultureller Werte sind vor allem Arbeitsplätze nötig. Das Verständnis für eine hochwertige Architek-tur ist im Dorf eher gering und braucht verstärkend die urbane Mittelklasse, die nicht nur als Investoren sondern auch als Konsumenten dafür sorgen müssen, dass die Landbevölkerung ein auskömmliches Leben gestalten kann, ohne die Seele zu verlieren. Die ländlichen Gemeinschaften stehen dabei vor der großen Herausforderung, mit neuen Konzepten Substanz zu gewinnen, obwohl die junge Generation staatlich dazu aufgefordert wird, in die Stadt abzuwandern.
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