Hält ganz von selbst
Das Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung an der Universität Stuttgart forscht an künstlichen granularen Materialien und erprobt das Bauen mit den ungebundenen Teilchen.
Text: Flagner, Beatrix, Berlin
Hält ganz von selbst
Das Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung an der Universität Stuttgart forscht an künstlichen granularen Materialien und erprobt das Bauen mit den ungebundenen Teilchen.
Text: Flagner, Beatrix, Berlin
Eine Sandburg besteht aus aberwitzig vielen kleinen, feuchten Sandkörnern. Sonst nichts. Damit die Sandburg nicht einstürzt, muss zwischen den einzelnen Sandkörnern nicht etwa irgendeine Verbundmasse, ein Klebstoff oder Mörtel, verteilt werden. Nein, die lose Ansammlung der winzigen Steinchen hält allein durch ihre Kontaktflächen. Stürzt die Sandburg dennoch ein, ist es auch nicht weiter schlimm – der Sand kann immer wieder zum Sandburgenbauen benutzt werden.
Mit diesem Bild vor Augen lässt sich das Forschungsprojekt von Achim Menges und Karola Dierichs vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Konstruieren (ICD) der Uni Stuttgart leicht verstehen. Seit zehn Jahren beschäftigen sie sich mit der Entwicklung von granularen Materialien und mit deren Eigenschaft, selbsttragend und vollständig rekonfigurierbar und damit wiederverwendbar zu sein. In der Natur sind solche granulare Substanzen beispielsweise der oben genannte Sand, aber auch Kies oder Schnee gehören dazu. Kann man ihr Verhalten nachahmen und für die Architektur adaptieren?
Der Versuch wurde mit der Realisierung des „ICD Aggregate Pavilion“ unternommen. Er ist sozusagen die erste Sandburg des Instituts. Mit dem sieben Meter langen, fünf Meter breiten und rund drei Meter hohen Objekt ist erstmals ein allseitig umschlossener Raum realisiert worden, der allein aus einem künstlich hergestellten granularen Material besteht und ausschließlich über losen Reibekontakt hält.
Für den Bau des Pavillons verwendeten die Forscher zwei ineinandergreifende sternförmige Partikel: Hexapode und Dekapode, die speziell für das Projekt entworfen und im Spritzgussverfahren aus recyceltem Kunststoff industriell hergestellt wurden. Insgesamt bilden circa 120.000 dieser Partikel den Pavillon aus. Da sie unverbunden sind und nur über Kontaktflächen interagieren, lassen sie sich wiederverwenden.
Als Sandburgenbauer diente ein für das Projekt maßgeschneidertes Seil-Robotersystem. Ein kabelgebundener Parallelroboter wurde an vier Wänden einer Lagerhalle befestigt, in der der Pavillon aufgebaut wurde. Der Roboter fuhr mit grauen Boxen, in denen die Partikel aufbewahrt werden, zu einem exakt definierten Depositionspunkt und ließ seine Ladung dort fallen. Eine parametrische Modellierungsumgebung steuerte den Seilroboter. Ein Bildalgorithmus überwachte kontinuierlich die geometrische Genauigkeit der Struktur.
Nicht nur der fertige Pavillon besteht aus losen Partikeln, sondern auch die übrigen Elemente, die für seinen Aufbau zum Einsatz kamen. Zur Stabilisierung der Außenseiten des Pavillons während des Aufbaus dienten die sukzessive entleerten Boxen. Als „Lehrgerüst“ im Innenraum wurde ein weiteres granulares Element verwendet: Mit Luft gefüllte Kunststoffkugeln. Als Schalung sind sie besonders materialsparend, da das Verhältnis zwischen ihrem Volumen im Ursprungszustand (nicht aufgeblasen) und als Schalung (aufgeblasen) sehr groß ist.
Am Schluss wurden die 725 Kugeln eine nach der anderen herausgerollt, damit sich der Pavillon selbst stabilisieren konnte. Das Ergebnis des aufwendig choreografierten Konstruktionsprozesses ist bildlich eine ausgehöhlte Sandburg, tatsächlich eine fast kristalline Struktur.
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