Bauwelt

Bauingenieur Jörg Schlaich (1934–2021)

Zum Wirken des Bauingenieus Jörg Schlaich

Text: Knippers, Jan, Stuttgart

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    Jörg Schlaich
    Foto: Amin Akthar

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    Jörg Schlaich

    Foto: Amin Akthar

Bauingenieur Jörg Schlaich (1934–2021)

Zum Wirken des Bauingenieus Jörg Schlaich

Text: Knippers, Jan, Stuttgart

Geboren im Jahr 1934 und aufgewachsen in einem Pfarrerhaushalt in der Nähe von Stuttgart, hat er Bauingenieurwesen in Stuttgart und Berlin studiert. Nach einem Studienaufenthalt in den USA und Promotion an der Universität Stuttgart trat er 1963 in das Büro Leonhardt Andrä und Partner ein, wo er 1970 Partner wurde. Dort war er bald schon für anspruchsvolle Aufgaben zuständig, insbesondere für die Überdachung der olympischen Anlagen in München. Im Jahr 1974 übernahm er den Lehrstuhl für Massivbau an der Universität Stuttgart und gründete 1980 schließlich sein eigenes Büro.
In den folgenden Jahrzehnten definiert Jörg Schlaich eine neue Ingenieurbaukultur. Während die Ingenieure der Nachkriegsjahrzehnte vor allem mit dem Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur beschäftigt waren, geht es Jörg Schlaich um eine ganzheitliche Baukunst. Leichtigkeit und Eleganz, aber auch soziale Verantwortung für eine wachsende Weltbevölkerung sind die Themen, die er in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt. Die Liste der Bauten, die man an dieser Stelle nennen müsste, ist schier endlos: unzählige seilverspannte Fußgängerbrücken; verglaste Gitterschalen mit einer damals verblüffenden Transparenz; große Hallen und Brücken; zahlreiche Membrandächer für die internationalen Großereignisse des Sports: In seinen Projekten verbindet sich ingeniöse Kreativität mit höchstem ästhetischen Anspruch. Unermüdlich verteidigt er die Autonomie des Ingenieurs beim Entwerfen von Ingenieurbauten. Dies ändert nichts daran, dass viele seiner wichtigsten Projekte in Kooperation mit Architekten entstanden sind, erst Günter Behnisch, Fritz Auer und Kurt Ackermann, später dann vor allem Volkwin Marg, Meinhard von Gerkan, aber auch viele andere.
Er selbst hat mehrfach die Hooghly Brücke in Kalkutta als das wichtigste Bauwerk seiner Laufbahn genannt, nicht zuletzt, weil es ihn fast zwanzig Jahre lang begleitet hat. Für die Brücke hat er in den frühen 1970er-Jahren ein hochinnovatives Schrägseiltragwerk mit der Weltrekordspannweite von 457 Metern entworfen, das aber ausschließlich aus regional verfügbaren Ressourcen errichtet werden sollte. Da es damals in Indien keine schweißbaren Stahlbleche gab, wurde die gesamte Brücke genietet – eine Technik, die zum damaligen Zeitpunkt in Europa schon lange nicht mehr verwendet wurde. Dies hatte den zusätzlichen Effekt, das hunderte von lokalen Arbeitskräften für viele Jahre ihr Auskommen hatten.
Jörg Schlaich hat sich auch gerne und intensiv mit kleinen Aufgaben beschäftigt, da diese mehr Raum für Experimente ließen. Ein Beispiel hierfür ist der Killesbergturm in Stuttgart, ein Entwurf aus dem Jahr 1993. Vorgespannte Netze beschäftigen ihn seit dem Olympiadach in München und er hat dieses Thema hier völlig neu für einen Aussichtsturm interpretiert. Im Ergebnis entsteht ein reiner Ingenieurbau ohne jedes schmückende Beiwerk, der aber keiner sturen Optimierungslogik folgt, sondern ein originelles Tragprinzip in spielerischer Form ablesbar und im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar vorführt.
Engagement von Schlaich für die Solarenergie
Aus heutiger Perspektive ist sein frühes Engagement für die Solarenergie, Jahrzehnte bevor dies irgendeine politische Partei auf ihrer Agenda hatte, besonders bemerkenswert. Schon 1982 hat er einen Prototyp für ein Aufwindkraftwerk in Spanien errichtet und damit einen Weg auf­gezeigt, wie eine solare Energieerzeugung im großen Maßstab in den Wüsten Nordafrikas aussehen könnte. Trotz unermüdlichen persönlichen Einsatzes ist ihm der Erfolg eines großen Aufwindkraftwerks verwehrt geblieben. Dennoch war sein Engagement nicht umsonst, da er zu denen gehört, die mit konstruktiven Ideen die Diskussion über eine alternative Energieversorgung angestoßen haben.
Ich hatte Anfang der 1990er-Jahre das Glück, nach meinem Ingenieurstudium an der TU Berlin in seinem Stuttgarter Büro aufgenommen zu werden. Dort tat sich plötzlich ein weiter Horizont auf: Es wurde über Baukultur, Solarenergie und globale Verantwortung diskutiert – Themen, die in meinem damaligen Bauingenieurstudium keine Rolle gespielt hatten. Beeindruckt hat er uns mit seinen im besten Sinne schwäbischen Tugenden: Ohne Aufhebens um die eigene Person hat er seine Ziele mit einer unfassbaren Hart­näckigkeit verfolgt und ist dabei keinem Konflikt aus dem Weg gegangen. Ich kann mich gut an die heftigen Diskussionen mit Senatsbaudirektor Hans Stimmann und den Verantwortlichen der Bahn über seine Brückenentwürfe an den Ber­liner Bahnhöfen erinnern. Mehrfach waren sie schon abgelehnt worden, aber immer wieder fand er einen Weg, sie am Leben zu halten, bis er schließlich Erfolg hatte. Neben Kompetenz und Kreativität war Durchsetzungsstärke sicher ganz wesentlich für seinen Erfolg.
Uns Jungen wurde schnell viel Verantwortung abverlangt, aber auch Vertrauen und grenzenloser Rückhalt entgegengebracht. In seinem Büro und an seinem Universitätsinstitut hat er ein Umfeld geschaffen, das von offenem Geist, Neugier und Freundschaft geprägt war und damit mich – sowie viele Kolleginnen und Kollegen meiner Generation – nachhaltig geprägt und motiviert. Nichts belegt dies eindrucksvoller als die lange Reihe an ‚Ehemaligen‘, die heute in Hochschulen und Büros erfolgreich tätig sind. Der große deutsche Bauingenieur Jörg Schlaich ist am 4. September in Berlin gestorben.

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