Kritischer Visionär
Für Friedrich Kiesler (1890–1965) vollendete sich Architektur erst, wenn der Mensch sie belebt. Das einflussreiche Werk des Universalkünstlers ist zurzeit in einer großen Berliner Retrospektive zu sehen
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Kritischer Visionär
Für Friedrich Kiesler (1890–1965) vollendete sich Architektur erst, wenn der Mensch sie belebt. Das einflussreiche Werk des Universalkünstlers ist zurzeit in einer großen Berliner Retrospektive zu sehen
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
Berlin als Ort für eine Friedrich-Kiesler-Retrospektive ist eigentlich so naheliegend, dass man sich fragt, weshalb das Werk des großen austro-amerikanischen Universalkünstlers und Architekten dort noch nie gewürdigt wurde. Denn Friedrich Kiesler, 1890 in den Weiten der k.u.k.-Kronlande geboren, der in Wien nach nie abgeschlossenem Architektur- und Kunststudium eher als mittelloser Kaffeehaus-Theoretisierer denn als vertrauenswürdiger Gestalter wahrgenommen wurde, betrat in Berlin im März 1923 sprichwörtlich die Bühne der Avantgarde.
Für den Impresario Eugen Robert hatte er eine bahnbrechende Kulisse geschaffen: eine elektro-mechanische Maschinenwand, die mit optischen Projektionen einem dystopischen Roboterschauspiel zu futuristischer Dramatik verhalf. Theo von Doesburg, El Lissitzky, Kurt Schwitters, László Moholy-Nagy und weitere Brüder im Geiste pilgerten zu Aufführungen ins Theater am Kurfürstendamm und führten Kiesler in die internationale Szene der Weimarer Republik ein.
Für eine zweite Berliner Inszenierung verwendete Kiesler Anfang 1924 dann erstmals den Begriff „Raumbühne“, die im September 1924 in der legendären, von Kiesler organisierten Theaterausstellung im Wiener Konzerthaus als spiralförmiges Raumkontinuum dreidimensionale Gestalt annimmt (Bauwelt 5.2013). Bühne und Theater werden fortan der große integrative Topos von Kieslers Schaffen – ein inszenatorischer Subtext schwingt in jedem seiner Projekte mit.
Mit über 400 Skizzen, Plänen, Fotografien, Modellen und Möbeln, die ein österreichischer Hersteller als Re-Edition aufgelegt hat, folgt die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau streng chronologisch dem sich in unzählige Disziplinen verästelnden Werk Friedrich Kieslers. Dadurch wird die Simultaneität, Gleichrangigkeit und wechselseitige Dynamisierung der Sparten offensichtlich. Und das unterscheidet diese Retrospektive auch von der umfangreichen thematischen Interpretation, die vor nicht einmal einem Jahr im Wiener Museum für angewandte Kunst zu sehen war (Bauwelt 34.2016).
Der Theaterausstellung 1924 folgt 1925 eine Einladung nach Paris und 1926 nach New York. Dort trifft eine große Überblicksschau zum europäischen Avantgarde-Theater allerdings auf eher negative Kritik. Auch die Hoffnung auf ein wirtschaftlich stabileres Leben in der Neuen Welt zerschlägt sich: Kiesler erhält wohl kein Honorar, nicht einmal die Rückfahrt nach Europa ist bezahlbar. Aber es sind neuerlich hilfreiche Künstlerkontakte, die Kiesler zu schätzen weiß – und die er bis zu seinem Tod 1965 zu einem Who’s who der internationalen Geisteselite ausweitet.
In atemberaubender Produktivität entstehen nach 1926 Pläne für ein Doppeltheater in New York, ein erfolgreicher, nicht realisierter Wettbewerbsbeitrag für ein Leichtbau-Sommertheater in Woodstock und das spektakuläre Licht- und Raumkunstwerk des „Guild Cinema“, in dem eine Riesen-Fotoblende vor der Leinwand den traditionellen Vorhang ersetzt. In der Regel werden Projekte publizistisch begleitet: So mündet etwa die in Architekturzitaten der Moderne inszenierte Damenmode in den Schaufenstern von Saks Fifth Avenue 1930 in ein Buch zur angewandten Kunst im Dienste der Warenpräsentation.
Sozialisiert im Wien des Gesamtkunstwerks, das den Menschen eher als Störfaktor einer vollkommenen Ordnung empfand, formuliert Kiesler sukzessive seine radikalhumane Gegentheorie: Jegliches Kunst- oder Architekturwerk vollendet sich erst im Beleben durch den Menschen. Skulptur, Malerei, Architektur sind dazu da, sich zu verbinden, zu „korrelieren“, so Kiesler. Experimente und Realisierungen dazu sind vielseitig: Ein 1:1-Modell des „Space House“ birgt 1939 den Bewohner in die eigenräumliche Dynamik der Eierschale; eine „Home Mobile Library“ gewährt Mensch wie Buch die atmosphärisch richtige Freisetzung; mobile, variable Möbel, so eine legere „Party Lounge“ für bis zu sechs Personen, dienen spontaner Raumaneignung.
Einem geradezu körperlichen Geburtsprozess entspringt 1958/59 Kieslers Opus Magnum, das „Endless House“. „Die Idee hat sich über 40 Jahre entwickelt, sie sitzt tief und überall in meinem Körper“, so Kiesler, und weiter: „Entwerfen bedeutet (…) ganz Werkzeug zu sein, statt das Werkzeug zu führen.“ Wohl wissend, dass sich dieser biomorphe Raum-Loop in absehbarer Zukunft nicht an einer Realisierbarkeit messen muss, setzt Kiesler einzig auf die Idee. Die ist imaginativ in ein großmaßstäbliches Modell eingefangen, dessen innere Situationen er fotografieren lässt und als wirkmächtige Vergrößerungen im MoMA zeigt. Das Modell aber ist roh, eine unfertige Skizze. Der die Baurealität antizipierende Beton deckt nur partiell ein Gitterwerk der Tragstruktur, weist Fehlstellen und Improvisationen auf. Kiesler erzählt so (s)eine fundamental utopische (Lebens-)Geschichte, die nie zu Ende erzählt werden will. Denn die Utopie ist eine Form der Kritik, philosophisch gesagt: an der Wahrheit.
0 Kommentare