Bauwelt

Leipzig – Zahlen und Erzählungen einer wachsenden Stadt

Wie kaum eine andere ostdeutsche Stadt erlebt Leipzig nach einem starken Bevölkerungsrückgang wieder einen anhaltenden Aufschwung. Das ist weniger architektonischen Einzelprojekten zu verdanken als einer gelungenen Weiterführung des baulichen Erbes.

Text: Sturm, Hanna, Leipzig

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    Impressionen aus Leipzig: Sanierte Gründerzeithäuser, ...
    Foto: Jonathan Gescher und Hanna Sturm

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    ... weitläufige Freiräume ...
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    ... und ungeschönte Industrieromantik.
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Leipzig – Zahlen und Erzählungen einer wachsenden Stadt

Wie kaum eine andere ostdeutsche Stadt erlebt Leipzig nach einem starken Bevölkerungsrückgang wieder einen anhaltenden Aufschwung. Das ist weniger architektonischen Einzelprojekten zu verdanken als einer gelungenen Weiterführung des baulichen Erbes.

Text: Sturm, Hanna, Leipzig

Auf der einen Seite stehen die Zahlen: Nachdem die Leipziger Bevölkerung zwischen 1990 und 1998 von 511.079 auf 437.101 geschrumpft war, wuchs die Stadt in den darauffolgenden 24 Jahren auf 608.651 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Arbeitslosenquote sank von 21,3 Prozent im Jahr 2005 bis 2019 auf 6,5 Prozent. In einer kommunalen Bürgerumfrage 2020 gaben 77 Prozent an, mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden zu sein.
Auf der anderen Seite stehen die Beschreibungen. Um Leipzig ranken sich seit der Jahrtausendwende Erzählungen von Subkultur, lichtdurchfluteten Altbauten, mit Start-ups gefüllten Industriedenkmälern und Brachen mit Entwicklungspotenzial. Wer diese Bilder leichtfertig als Zuwanderer-Kitsch abtut, der übersieht, wie eng sie mit der Geschichte der Stadt verwoben sind. Rote Backsteinmauern, prunkvolle Gründerzeitfassaden und Paddelboote auf weidengesäumten Kanälen lassen schnell vergessen welcher Kraftakt nötig war, um diese Qualitäten, in einer nach der Wende bis zur Unkenntlichkeit von Industrie und Bevölkerungsschwund entstellten Stadt, zu erkennen und wiederzubeleben.

Bestandsbelebung

Wie vielerorts in Deutschland verfiel auch in Leipzig in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das Gründerzeithaus zu einer maroden Stuck-Baracke. 1989 standen schätzungsweise 25.000 bis 30.000 Wohnungen leer. Nach dem Mauerfall verschärfte sich die Situation durch Abwanderung in den Westen. Allein innerhalb der ersten drei Nachwendejahre verließen 50.000 Leipzigerinnen und Leipziger die Stadt.
Die von der breiten Bevölkerung als schützenswert bewerteten Gründerzeithäuser wurden Mitte der 1990er zum Rückzugsort einer bunten Mischung aus den bisherigen Bewohnern, hinzuziehenden Studierenden, Kunstschaffenden, Punks und Arbeiterinnen, die hinter den bröckelnden Fassaden Räume für ihre Ideen sahen. Hausbesetzungen schützten die Gebäude nicht nur vor weiterem Verfall, die Besetzer belebten auch ausgestorbene Stadtviertel mit Ateliers, Werkstätten, Bühnen und Ladenprojekten. Durch die kreative Szene ermutigt, investierten erste private Bauträger in die Umnutzung alter Fabrikgebäude. So trugen Orte wie das heute international bekannte Kunstquartier in der ehemaligen Spinnerei oder die Ausstellungs-, Atelier- und Büroräume im Lindenauer Tapetenwerk, bald zum Image Leipzigs als „Stadt der Kreativen“ bei.
Der Investoreneuphorie der Nachwendejahre zum Trotz, ging die Einwohnerzahl weiter drastisch zurück. Das zwischen 1995 und 2000 trotzdem rund 11.000 Gründerzeithäuser saniert werden konnten, ist wesentlich der Unterschutzstellung des historischen Baubestands zu verdanken. Durch steuerliche Vergünstigungen blieb die Denkmalsanierung für viele Bauträger rentabel, auch als die Baukonjunktur um 2000 einen starken Einbruch erlitt. Leipziger Denkmalschützern ist zu verdanken, dass die Qualität der Sanierungen nicht ökonomischen Interessen geopfert wurde. So leben die Gründerzeithäuser von einem behutsam restaurierten Detailreichtum, der immer wieder Momente der Identifikation stiftet. Aber noch gab es in der schrumpfenden Stadt kaum Mieter für die frisch renovierten Wohnungen. Der Wohnungsmarkt reagierte mit einer Talfahrt der Angebotsmieten von 8,28 Euro/m2 (1994), hin zu 4,57 Euro/m2 (2009). Von Entwicklungsspielräumen, günstigen Mieten und in Sachsen nicht erhobenen Studiengebühren zog es nach 2000 vor allem die Studierendenschaft und Berufseinsteiger in die Stadt.
Dass Leipzig nach einem Verlust von fast 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und rund 90.000 Industriearbeitsplätzen in den 1990er Jahren, inzwischen über den Vorwendezustand hinausgewachsen ist, wäre ohne eine massive staatliche Förderung unmöglich gewesen. Die Ansiedlung der Großkonzerne BMW, Porsche und DHL, sowie der Bau des neuen Messegeländes und des Flughafens um die Jahrtausendwende, trugen ebenfalls maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt bei. Seit 2000 steigen die Mieten parallel zur wachsenden Bevölkerung und lagen 2020 bei 7,10 Euro/m2 (Angebotsmiete). Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten wohnt man in Leipzig immer noch günstig, jedoch lag die Mietbelastungsquote 2021 mit 28,5 Prozent nicht weit unter Städten wie Frankfurt a.M. (33,3%) oder Stuttgart (32,6%). Damit verbundene Verdrängungsprozesse führen dazu, dass die Gründerzeitviertel drohen, einmal mehr zum alleinigen Wohnort des Bildungsbürgertums zu werden. Und Leipzig wächst weiter, Prognosen zufolge auf bis zu 660.000 Menschen im Jahr 2030. Mit einer Leerstandsquote von unter zwei Prozent ist der Bestand gefüllt und der Neubau rückt in den Vordergrund.
Statt wie vielerorts gesichtslose Quartiere aus dem Boden zu stampfen, sollte auch dort etwas vom Narrativ der Gründerzeitblöcke mit ihren urbanen Qualitäten und identifikationsstiftenden Fassaden aufgenommen, neu interpretiert und fortgeschrieben werden. Ebenso gilt es im Hinblick auf die gewachsene Kultur- und Gewerbelandschaft, Räume zu schützen, die auch Menschen mit geringem Einkommen offenstehen. Leipzigs Zukunft als Refugium der kulturellen Szene hängt davon ab, ob Atelier-, Wohn- und Werkstatträume bezahlbar bleiben.

Grüne Lücken

In den Nachwendejahren antwortete die Stadt mit dem Abriss von 15.000 Wohnungen auf den wachsenden Wohnungsleerstand, der in manchen Vierteln die 50-Prozent-Marke erreicht hatte. Mit über 800 Baulücken war Leipzig um das Jahr 2000 zu einer porösen Stadt geworden. Um der überwiegend negativen Rezeption dieser Brachflächen entgegenzuwirken, prägte der zwischen 1995 und 2005 amtierende Stadtbaurat Engelbert Lütke Daldrup, den Begriff der „perforierten Stadt“ (Stadtbauwelt 24.2001). Die durch Abbruch entstehenden Leerstellen sollten als Möglichkeitsräume einer experimentellen Stadtentwicklung wahrgenommen werden. Einige Brachen haben sich mittlerweile tatsächlich zu beliebten, informellen Stadtbausteinen entwickelt, die nun durch die fortschreitende Verdichtung gefährdet sind. So setzen sich Bürger z.B. auf der Eisenbahnstraße für den Erhalt einer Baulücke ein, die von sozialen Initiativen und Ladenprojekten aus der Nachbarschaft bespielt wird.
Neben der Eisenbahnstraße liegt der Stadtteilpark „Rabet“, wo durch den Rückbau angrenzender Gebäude eine zusammenhängende Grünfläche entstehen konnte, die nach dem Entwurf von Lützow 7 Landschaftsarchitekten von einem roten „Laufband“ erschlossen wird. Der Rabet bildet mit anderen Stadtteilparks wie dem Lene-Voigt-Park im Osten und dem Henriettenpark im Westen eine Reihe von Freiflächen, die irgendwo zwischen der wilden Aneignung einer Brache und den gediegeneren, großen Stadtparks anzusiedeln sind. Keine idyllischen Erholungsoasen, sondern nutzungsoffene Orte mit einer Mischung aus Infrastruktur für Fahrradfahrer, Skater und Spaziergänger sowie Sport- und Spielangeboten. Obwohl schon nach wenigen Jahren die meisten Oberflächen mit Graffiti besprüht, die Wiesen plattgetreten und einige Mülleimer umgeknickt sind, bleiben die Stadtteilparks beliebte Treffpunkte. Vielleicht auch, weil die weniger geordneten Räume einen befreienden Gegenpol zu den fast ausnahmslos mit Funktionen und Konventionen belegten Großstadt bildet.

Zum Wasser

Nichts illustriert den Wandel Leipzigs in den letzten 25 Jahren eindrucksvoller als die im Süden als Tagebaunachnutzung entstandene Seenplatte. Wo um die Jahrtausendwende gigantische Krater ganze Ortschaften verschluckten und das mit Reizen ohnehin nicht üppig gesegnete Umland zerstörten, befinden sich heute vier große Tagebauseen. Allen voran der stadtnahe, von den Leipzigern „Cossi“ genannte, Cospudener See. Sein über zehn Kilometer langes Ufer prägt eine unangestrengte Mischung aus exponierteren Sandstränden und kleinen, geschützten Buchten. Keine Villen mit Wasserblick, sondern ein Fahrradrundweg; keine an Freizeitparks erinnernde Fressmeile, sondern vereinzelte Strandbuden. Seit 2011 kann man den Cospudener See auch über den Floßgraben erreichen.
In der Stadt lassen Abbildungen des 19. Jahrhunderts die ehemalige Weitläufigkeit der Leipziger Kanallandschaft erahnen. Offene Wasserarme mit geschwungenen Brücken verschwanden im Zuge der industriell bedingten Wasserverschmutzung bis 1989 fast vollständig in der Kanalisation. Ein zentrales Projekt zur Wiederherstellung der Kanäle, war die Renaturierung des Karl-Heine-Kanals im Leipziger Westen. So kann heute nicht nur eine Reihe von Industriedenkmälern mit dem Kanu besichtigt werden, auf den begrünten über drei Kilometer langen Uferzonen entstanden auch seltene, für Radfahrer und Fußgänger exklusive Wege durch die Stadt. Neben offensichtlichen Vorteilen wie der Aufwertung angrenzender Wohnlagen oder der Verbesserung des Stadtklimas, wird am Karl-Heine-Kanal deutlich, wie gewinnbringend die Gestaltung alltäglicher Wege sein kann. Der Kanal bietet Gelegenheiten zum spontanen Verweilen und markiert, selbst wenn er nur über eine Brücke gekreuzt wird, einprägsame Punkte in der städtischen Infrastruktur.

Wie weiter?

Was also ist das Fazit dieser Erzählung einer Stadt, die innerhalb eines Vierteljahrhunderts sowohl extreme Schrumpfung als auch extremes Wachstum erfahren hat? Nicht aus dem Boden gestampfte Leuchtturmprojekte, sondern aus der Geschichte gehobene und sorgsam weitergeschriebene Strukturen, machen heute Leipzigs Lebensqualität aus. In ihrer Bildhaftigkeit sind Gründerzeithäuser, Industriedenkmäler, Stadtteilparks und Tagebauseen nicht nur starke Identifikationsträger, sie haben einen Wert, der über ihren Nutzen hinausgeht. Damit würden sie auch im Falle einer erneuten Schrumpfung Leipzigs nicht obsolet. Diese der Stadt eingeschriebene Resilienz ist ein ermutigender Anfang für neue Erzählungen in einer unwägbaren Zukunft.

Als Quelle diente u.a.: Bartetzky, Arnold. Die gerettete Stadt. Architektur und Stadtentwicklung in Leipzig seit 1989. Lehmstedt Verlag, 2015

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