Lernfähiges Dachtragwerk
Forscher aus Stuttgart haben eine ultraleichte Dachkonstruktion aus Carbon- und Glasfasern entwickelt, die von einem Roboter ge- schnürt wird – und sich selbständig weiterbauen kann.
Text: Flagner, Beatrix, Berlin
Lernfähiges Dachtragwerk
Forscher aus Stuttgart haben eine ultraleichte Dachkonstruktion aus Carbon- und Glasfasern entwickelt, die von einem Roboter ge- schnürt wird – und sich selbständig weiterbauen kann.
Text: Flagner, Beatrix, Berlin
Am Nachmittag sind für die Veranstaltung im Freien Schauer angesagt. Bloß gut, dass es einen Pavillon gibt. Selbst wenn bei den ersten Regentropfen nicht direkt alle Besucher darunter passen, kann er ja einfach weitergebaut werden.
Klingt im ersten Moment unmöglich, doch Achim Menges und Moritz Dörstelmann vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und Jan Kippers vom Institut für Tragkonstruktion und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart haben zusammen mit Thomas Auer von Transsolar Klima Engineering einen Pavillon entwickelt, der im Prinzip genau das leisten soll. Der „Elytra Filament Pavillon“ ist kein statischer, sondern ein dynamischer Raum. Die Besucher des Victoria & Albert Museums in London konnten sich 2016 im Garten des Museums davon überzeugen, wie er Zusammenhänge zwischen Raumnutzung und -generierung herstellt. Der Pavillon besteht aus Fasern, in die ein Sensorsystem integriert ist, das in Echtzeit Klimadaten erfasst, sich das Besucherverhalten merkt und die Ergebnisse in Zusammenhang mit der Spannung im Tragwerk bringt. All diese Informationen werden gesammelt und in einem Algorithmus verarbeitet. Der entscheidet, an welcher Stelle der Pavillon weiterwachsen oder rekonfiguriert werden kann. Ein Roboter vor Ort erledigt den Rest.
Ein toller Effekt, der erst durch die besondere Konstruktion des Pavillons möglich wird. Dem Forscherteam ist es gelungen, durch computerbasierte Entwurfs- und Fertigungsverfahren biologische Faserstrukturen in Architektur zu übertragen. Denn in der Natur bestehen fast alle tragenden Strukturen aus Faserverbundsystemen. Der Aufbau des Pavillons ist inspiriert von den Vorderflügeln eines Flugkäfers, die man Elytra nennt.
Nur zwei Elemente liegen der Dachkonstruktion zugrunde, die Dachzellen und die Säulenzellen. Beide sind aus demselben Material: harzgesättigte Glasfasern und schwarze Kohlenstofffasern. Der produktionstechnische Fortschritt liegt in dem kernlosen Wickelverfahren der Fasern. Ein Roboter wickelt sie um definierte Ankerpunkte herum auf einen hexagonalen Stahlrahmen. Die Fasern werden straff gespannt, verformen sich aber während des Wickelprozesses, sodass eine gekrümmte Fläche entsteht. Anschließend härten die Fasern aus, der Rahmen wird herausgenommen und kann wiederverwendet werden. Eine aufwendige Schalung für Leichtbausysteme mit individuellen Geometrien und Krümmungen ist somit nicht mehr notwendig. Mithilfe der erwähnten Sensoren und durch den robotischen Herstellungsprozess können unendlich viele Möglichkeiten der Dachzellen mit verschiedenen Faseranordnungen, -dichten und –orientierungen ausgestaltet werden, was den Pavillon zu einem lernfähigen Dachtragwerk macht. Vor allem aber ist er materialeffizient und mit einem Gewicht von neun Kilogramm pro Quadratmeter außerordentlich leicht.
Seit diesem September gehört das Forschungsprojekt zum neuen Exzellenscluster „Integrative Computational Design and Construction for Architecture” der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Institute ICD und ITKE arbeiten seit 2012 an dem kernlosen Faserwickelverfahren und optimieren es. Ein konstruktiver Nachfolger des Elytra Filament Pavilion, der 2017 auch in Weil am Rhein zu sehen war, wird im kommenden Jahr bei der Bundesgartenschau in Heilbronn präsentiert.
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