Les Sauteurs – Those Who Jump
Über einen Film von Moritz Siebert, Abou Bakar Sidibé und Estephan Wagner
Text: Siebert, Moritz, Berlin; Wagner, Estephan
Les Sauteurs – Those Who Jump
Über einen Film von Moritz Siebert, Abou Bakar Sidibé und Estephan Wagner
Text: Siebert, Moritz, Berlin; Wagner, Estephan
Vom Berg Gurugu blickt man auf die spanische Enklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Afrika und die Europäische Union werden dort durch eine hochgesicherte Grenzanlage voneinander getrennt. In den Wäldern des Bergausläufers leben Flüchtlinge, viele von ihnen aus der Subsahara-Region. Sie versuchen, diese direkte Landgrenze zwischen Marokko und Spanien zu überqueren – so auch Abou Bakar Sidibé aus Mali, der zugleich Protagonist und Koregisseur des Dokumentarfilms „Les Sauteurs – Those Who Jump“ ist. Nach 14 Monaten im informellen Camp und mehreren gescheiterten Versuchen, das Zaunsystem zu überwinden, beginnt Abou zu filmen – seinen Alltag, die Umgebung, das zermürbende Warten auf den nächsten „Sprung“ über die Grenzanlagen. Seine Aufnahmen geben Einblick in die soziale Organisation einer Gemeinschaft am Rand der abgeschotteten EU. Der Film zeigt den subjektiven Blick eines Individuums – ein radikaler Perspektivwechsel.
Der Zaun
Über 100 Millionen Euro haben Spanien und die EU in den Ausbau der Grenze gesteckt. Der Zaun von Melilla ist 14 Kilometer lang und gilt als die modernste und am stärksten hochgerüstete Grenzanlage der Welt. Auf marokkanischer Seite besteht die Grenzanlage aus einem vier Meter breiten und tiefen Graben, ausgekleidet mit Stacheldraht. Auf spanischen Grund stehen drei Zäune, jeweils zwischen drei und sechs Meter hoch. Der äußere Zaun ist zur marokkanischen Seite hin geneigt und mit rasiermesserscharfen NATO-Draht bewehrt. Ursprünglich aus Maschendraht gefertigt, wurde der Zaun mit Netzen ergänzt, in denen Finger keinen Halt zum Klettern finden. Zwischen den drei Zäunen befinden sich Stolperdrähte, Bewegungsmelder, eine festinstallierte Pfefferspray-Sprühvorrichtung sowie Überwachungskameras. Alle paar hundert Meter steht ein Wachturm. Die Bürger von Melilla wohnen in einer Festung.
Der Sprung
Im Jahr 2014 leben vis-à-vis der Grenzanlage bis zu 1500 Migranten unter katastrophalen materiellen und hygienischen Bedingungen auf dem Berg „Gurugu“. Sie eint der Traum von einer Zukunft in Europa, auf der anderen Seite des Zauns. Sie ertragen die fast täglichen Polizeirazzien im Camp, die Hitze im Sommer, die feuchte Kälte der Nächte im Winter.
Alle paar Tage machen sich Gruppen von bis zu 1000 Menschen in der Nacht auf den Weg und wagen den „Sprung“. Um den Nachsichtkameras der spanischen Guardia Civil zu entkommen, laufen die Springer oft stundenlang im Schatten der Täler und Hügel des Gurugus, obwohl der Zaun nur ein paar hundert Meter entfernt ist. Sie erreichen nur selten den Zaun, ohne dass dort bereits die marokkanische und die spanische Polizei auf sie warten. Die Strategie der Springer ist es, in der Überzahl zu sein. Als erstes müssen sie die Linien der marokkanischen Polizei durchbrechen, dann die Grenzanlage überwinden. Mit dem Überwinden des ersten Zauns befindet man sich auf europäischen Grund. In der Realität ermöglicht das den Springern aber nicht, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Immer wieder kommt es zu „Push-Backs“. Die spanische Guardia Civil übergibt die am Zaun Festgenommenen direkt den marokkanischen Behörden. Nur wer es bis in das zentrale Flüchtlingslager CETI in Melilla schafft, kann sicher sein, einen Antrag auf Asyl stellen zu können. Bei den meisten Versuchen gelingt es nur zwischen 10 und 20 Menschen, den Zaun zu überwinden, manchmal sind es bis zu 250. Einige Springer verbringen bis zu zwei Jahre im Camp auf dem Berg Gurugu, andere schaffen den Sprung schon nach einer Nacht. Neben Knochenbrüchen erleiden die Springer oft tiefe Schnittverletzungen durch den NATO-Draht sowie innere Verletzungen durch - oft erzwungene – Stürze aus sechs Metern Höhe.
Anfang 2015 lässt Spanien das Camp auf dem Berg Gurugu durch die marokkanische Polizei räumen. Die dort Festgenommenen werden in weit entfernte Städte verbracht. Nach acht Monaten kehren erste Gruppen langsam zum Berg Gurugu zurück und wagen erneut den Sprung.
Ein radikaler Perspektivwechsel
2014 mehrten sich die Berichte über die anhaltenden Versuche von großen Gruppen Flüchtender, den Grenzzaun vor Melilla im Sturm zu nehmen. Die Ausdauer dieser Männer auf dem Berg Gurugu beeindruckte uns sehr. Egal, wie oft sie scheiterten, egal, wie schmerzhaft ihre missglückten Versuche waren: Sie standen wieder auf, fest entschlossen, sich nicht von ihrem Ziel abbringen zu lassen. Es gibt viele Geschichten über die Tragödien an den europäischen Grenzen. Die in den Medien kursierenden Bilder vermitteln aber oft nur einen eingeschränkten Eindruck. Eine Stimme scheint mehrheitlich zu fehlen: die der betroffenen Menschen.
Der Dokumentarfilm Les Sauteurs ist ein dokumentarisches Experiment. Wir suchten nach einem neuen Ansatz, der den bereits existierenden Werken zu dem Thema eine neue Qualität hinzufügen würde. Dafür mussten wir zunächst unsere Herangehensweise als Filmemacher hinterfragen. Wir beschlossen, vorbehaltlos die Perspektive unseres Protagonisten einzunehmen, ihm die Auswahl der Bereiche seines Lebens zu überlassen, die gefilmt werden sollten oder auch nicht.
Über einen Fotografen aus Melilla kamen wir in Kontakt mit Abou Bakar Sidibé und den anderen Geflüchteten auf dem Berg Gurugu. Schnell konnten wir Abou für die Idee gewinnen. Wir gaben ihm eine Kamera und sprachen ein wenig über die Grundlagen des Filmens. Natürlich unterschied sich Abous Motivation für den Film zunächst von unserer. Neben dem finanziellen Anreiz war sein zentrales Anliegen, das Leben vor dem Grenzzaun von Melilla zu dokumentieren und der Welt die große Ungerechtigkeit vor Augen zu führen, mit der die Menschen am Zaun von Melilla konfrontiert sind. Diese, seine Geschichte sollte festgehalten werden.
Bei den ersten Sichtungen von Abous Materials zeigte sich, dass er viel filmte und offensichtlich Freude daran hatte, sich mit der Kamera auszuprobieren. Mit der Zeit interessierte Abou sich mehr und mehr auch für das Filmen an sich, das für ihn bald zu einer eigenen Ausdrucksform wurde. In demselben Maße, in dem Abou sich vom Protagonisten zum Koregisseur entwickelte, wurde Les Sauteurs zu einem Film über das Filmemachen.
Die Bilder der Überwachungskameras
In Abous Material gab es eine zu erwartende Leerstelle: der Grenzzaun selbst. Über Youtube stießen wir auf Material der Überwachungskameras der spanischen Guardia Civil am Zaun von Melilla. Für uns stellten diese Videos die ideale Ergänzung und gleichzeitig krasse Gegensätzlichkeit zu Abous Material da: die kalten Bilder einer Maschine, ohne Geschichte, ohne ästhetische Grundsätze. Bilder, die der simplen Logik folgen, was sein darf oder was nicht, schwarz oder weiß. Wenn in dem Bild kleine schwarze Punkte auftauchen (Menschen auf dem Weg zum Zaun), dann ist etwas falsch. Dagegen stehen Abous Bilder als Ausdruck von Menschlichkeit, Hoffnung und Begehren nach einer Zukunft. In den maschinell erzeugten Bildern der Überwachungskamera spiegelt sich für uns die inhärente Gewalt der Architektur des Grenzzaunes wider. Gleichzeitig repräsentieren diese Bilder den Blick Europas, das Migration zunehmend nur noch als Problem sieht.
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