Bauwelt

In der Tradition des „Dynamit-Rudi“

Leserbrief von Philipp Oswalt zu Si tacuisses, Bauwelt 16.2023, Seite 15

Text: Oswalt, Philipp, Kassel

In der Tradition des „Dynamit-Rudi“

Leserbrief von Philipp Oswalt zu Si tacuisses, Bauwelt 16.2023, Seite 15

Text: Oswalt, Philipp, Kassel

Eine schmissige Polemik liest der Leser ja gerne. Und Architekten, die Nutzerinteressen ignorieren, sind ein plausibles Narrativ. Doch was Enrico Santifaller zur Causa der Städtischen Bühnen Frankfurt in der Bauwelt 16.2023 zum Besten gab, hat mit Fakten wenig zu tun. Etwa, dass in Frankfurt am Main im Theaterbau unerfahrene Platzhirsche zugange sind, die nichts unversuchtlassen, den dringend benötigten Neubau der Städtischen Bühnen zu hintertreiben, um einen Sanierungsauftrag zu erhalten. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist mutig, wenn Architekten sich hier kritisch gegenüber der Stadtregierung po­sitionieren, weil diese ein wichtiger Auftraggeber ist und Widerworte für zukünftige Akquisen sicherlich nicht hilfreich sind.
Für Santifaller stellt der heutige Standort der Städtischen Bühnen offenkundig einen magisch verwunschenen Ort dar, der für die Nutzung als Theaterdoppelanlage, die er in den letzten 60 Jahren beherbergt hat, nunmehr grundsätzlich ungeeignet sein soll. Santifaller wendet sich nicht gegen einen konkreten Entwurf, sondern gegen den Standort als solchen. Jeglicher Verbleib beider Bühnen am Standort – ob als Neubau oder Kombination von Neubau und Sanierung – tritt seines Erachtens die Interessen der am Theater Beschäftigen mit Füßen und verursacht menschenverachtende Arbeitsbedingungen. Bestenfalls wäre eine akzeptable Arbeits-situation am Standort nur zu exorbitanten Kosten herstellbar. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Drei Jahre lang hat die Stabsstelle der Stadt nach alternativen Standortlösungen gesucht, wie sie auch von Santifaller vorgeschlagen wurden (Bauwelt 16.2020). Und mit welchem Ergebnis? Dass keine Alternative zur Doppelanlage billiger, einfacher oder schneller zu haben wäre.
Die von der Kulturdezernentin und Oberbürgermeister propagierte und von Santifallers Kritik verschonte Kulturmeile mit einem neuen Standort für das Schauspiel in der Neuen Mainzer Straße ist über 100 Millionen Euro teurer als ein Neubau mit oder ohne Teilsanierung am heutigen Standort. Das sah in den Unterlagen zur Abrissentscheidung von 2020 noch anders aus, weil diese die Grundstückskosten ausblendeten und unplausible Annahmen trafen, die jeglichen Neubau finanziell günstiger erscheinen ließen.
Santifaller schreibt, die Kommunalpolitiker hätten es sich damals „nicht leicht gemacht“. In Wirklichkeit ist es aber so, dass der Abrissbeschluss eine extrem kurzfristige Reaktion auf einen AfD-Antrag war. Die Beschlussvorlage war keine 24 Stunden alt, als er ohne Behandlung im Kulturausschuss vom Stadtparlament beschlossen wurde. Die zugrundeliegenden Gutachten waren zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich, sondern wurden erst mit monatelanger Verzögerung veröffentlicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Stadtverwaltung war aufgrund des enormen Zeitmangels und der fehlenden Unterlagen nicht möglich. Inzwischen kritisieren auch die damaligen Kulturpolitiker von CDU und Grünen dieses undemokratische Vorgehen. Und die verspätete Veröffentlichung des Validierungsgutachtens von schneider+schu- macher hat gezeigt, dass eine Weiternutzung eines Teils des bestehenden Gebäudekomplexes ohne funktionale Einbußen möglich und zudem wirtschaftlich wäre.
Doch davon will die SPD-Politik in Frankfurt nichts wissen. In der Tradition des „Dynamit-Rudi“ – jenes berüchtigten abrissfreudigen SPD-Oberbürgermeisters der 1970er Jahre – sollen nicht nur der gesamte bestehende Gebäudekomplex von gut 60.000 Quadratmeter einschließ-lich des denkmalgeschützten Glasfoyers restlos abgerissen werden, sondern für den neuen Standort des Schauspiels zugleich 39.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche intakter und in Nutzung befindlicher Bürobauten zerstört werden. Was dies für die dort 700 Beschäftigten bedeutet, spielt offenkundig keine Rolle. Aber selbst für die Mitarbeiter der Städtischen Bühnen ist die von Santifaller offenbar präferierte Neubaulösung Kulturmeile eine Zumutung.
2020 hätte die Stadt einen Neubau oder (Teil )Sanierung der Doppelanlage (gerne mit Erhalt von Foyer, Werkstattgebäude, Schauspielzuschauerraum und Bühne) mit einer Planungs- und Bauzeit von insgesamt neun Jahren auf den Weg bringen können, also einer Fertigstellung bis 2029. Stattdessen hat die Stadt nach Alternativen gesucht. Und nun wissen wir aus den Untersuchungen der städtischen Stabsstelle, dass für das Konzept Kulturmeile das neue Grundstück erst ab 2027/28 geräumt werden kann, mit einer weiteren Bauzeit von etwa zehn Jahren. Das heißt, dass der marode Bestandsbau noch bis 2032/33 weiter betrieben werden müsste, dem dann ein Interim für fünf Jahre folgen würde. Selbst wenn man sich heute für einenNeubau beziehungsweise Sanierung der Doppelanlage entscheiden würde, ginge dies alles fünf Jahre schneller, da anders als bei der Kulturmeile nicht auf die Fertigstellung eines Hochhauses gewartet werden müsste und das gesamte Gebäude in sechs Jahren im Ganzen fertiggestellt werden kann (mit oder ohne Erhalt der genannten Bauteile).
Die Manipulation der Argumente zeigt sich gut an der Frage des Operninterims. Für die Doppelanlage gilt ein Operninterim für 100 Millionen Euro als unverzichtbar. Schließlich müsse der Spielbetrieb unverändert inklusive Weiternutzung bestehender Bühnenbilder weiterlaufen. Dafür benötige das Interim eine Drehbühne von 38,5 Metern. Wer diese Maximalanforderung hinterfragt, gilt als Kulturbanause, der die Interessen des künstlerischen Betriebs und der Mitarbeiter mit Füßen tritt. Seit sich aber bei der Kulturmeile herausstellte, dass auch hier ein Operninterim unvermeidbar wäre, ticken die Uhren anders. Hier geht es nun ohne große Drehbühne, die Zuschauerzahl kann halbiert und auf einen klassischen Orchestergraben verzichtet werden. Einspareffekt mehr als 50 Millionen Euro. Und obwohl damit trotzdem die Kulturmeile mit Abstand noch am teuersten ist, lässt man in der Übersicht die Grundstückskosten einfach weg – weitere 100 Millionen Euro „gespart“. Auf diese Weise erscheint die Kulturmeile dann 0,2 Prozent günstiger, was ausreicht, um die Option Doppelanlage als Millionengrab zu diffamieren.
Wie ist ein solcher Irrsinn möglich? Vielleicht sollte man das Wort Arbeitnehmerinteressen mit SPD-Interessen ersetzen. Kann es sein, dass die Kulturdezernentin Ina Hartwig einen Gesichtsverlust vermeiden will, koste es, was es wolle? Mit ihrem Treiben hat sie eine prekäre Situation drei Jahre verlängert und viele Millionen für Gutachten ausgegeben, um feststel-len zu müssen: Es geht doch nicht besser als die Doppelanlage. Einen solchen Offenbarungseid gilt es zu vermeiden, auch wenn man ins Trudeln gerät. Im Februar hieß es noch, die Kulturmeile sei aus mehreren Gründen nicht vertretbar, die Spiegelvariante mit dem Schauspiel in den denkmalgeschützten Wallanlagen solle es sein. Fünf Monate später gelten die eigenen Argumente nicht mehr, nun soll es doch die Kulturmeile werden. Das Kartenhaus wackelt, aber die Frankfurter SPD-Netzwerke scheinen es einstweilen noch zu halten.
Philipp Oswalt, Universitätsprofessor, Kassel

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