Neue Spielregeln!
Während der Konferenz „Architecture Matters“ schauten die Teilnehmer auf den Bestand, um die Zukunft des Bauens voranzutreiben. Dabei verschob sich so manche Perspektive.
Text: Beck, Gabriela, München
Neue Spielregeln!
Während der Konferenz „Architecture Matters“ schauten die Teilnehmer auf den Bestand, um die Zukunft des Bauens voranzutreiben. Dabei verschob sich so manche Perspektive.
Text: Beck, Gabriela, München
Das Bauen ist so umweltrelevant wie keine andere Branche. Das verdeutlichen die Zahlen eindrücklich: Knapp 40 Prozent der CO₂-Emissionen, 60 Prozent des Abfallaufkommens und rund 70 Prozent der Flächenversiegelung gehen weltweit auf den Bausektor zurück. Hinzu kommt der extrem hohe Ressourcenverbrauch. Jedes Jahr werden alleine in Deutschland über 500 Millionen Tonnen mineralische Rohstoffe verbaut. Die nachhaltigsten Gebäude sind also die, die gar nicht erst entstehen. Ob Neubau künftig zur Ausnahme wird, diskutierten Anfang Mai Vor- und Nachden-ker aus Praxis und Forschung auf der Konferenz „Architecture Matters“, zu der das Münchner Kommunikationsbüro Plan A unter dem Motto „Second City. Über das Neue im Alten“ geladen hatte.
Im Fokus stand ein Thema, mit dem sich Architektinnen und Immobilienentwickler sonst eher selten profilieren und das auch in Architekturmaga-zinen oft erst in zweiter Linie Beachtung findet: der Baubestand. Wie optimieren wir den Lebenszyklus von Gebäuden? Wie können wir Beton umweltschonender herstellen und recyceln? Wie können wir Abfall als neuen Baustoff nutzen? Und wie gestalten wir die nötigen Veränderungsprozesse gemeinsam?
Martha Thorne, langjährige Vorsitzende der Pritzker-Preis-Jury, inspirierte in ihrer Keynote eingangs mit einem Plädoyer für einen Perspektivwechsel – weg von Le Corbusiers Idee der funktional getrennten Stadt hin zum Konzept der Stadt als Ökosystem, in dem alles mit allem auf vielfältige Weise zusammenhängt. Ein Beispiel: Entscheidet sich die Politik für Hundert Prozent E-Autos, gibt es weniger Verkehrslärm, aber vielleicht auch mehr Unfälle, weil man die Autos nicht mehr hört. Deswegen müssen künftig eventuell mehr Krankenhäuser gebaut werden. Die für die E-Autos benötigten Ladesäulen wiederum könnten gleichzeitig als Straßenlaternen genutzt werden – es entstehen neue, multifunktionale Stadtelemente. Es sei wie ein loser Faden an einem Pulli, stellte Martha Thorne fest: zieht man daran, löst sich das Ganze auf, und etwas Neues kann entstehen.
Wie man in Zukunft ein bestehendes Gebäude in seine Einzelteile zerlegen und dann ganz anders wieder zusammensetzen könnte, demonstrierte Tobias Nolte, Mitgründer des Kreativstudios Certain Measures. Mittels Algorithmus verwandelte sich auf der großen Leinwand im Münchner Künstlerhaus in Sekundenschnelle eine alte Datscha in einen futuristischen Polyeder, den sich allemal Science-Fiction-Fans in ihren Garten stellen würden. Dennoch ein Beispiel, wie maschinenbasiertes Entwerfen die Kreislaufwirtschaft eines Tages revolutionieren könnte.
Um die Optimierung bestehender Materialkreisläufe kümmert sich Concular, ein Startup aus Berlin, das Abriss-Material mit aktuellem Bedarf auf einer eigenen Plattform zusammenbringt. Interessenten, die zum Beispiel alte Türen oder Fenster für aktuelle Neubauprojekte einsetzen möchten, werden dort fündig. Bei ihren Bestandsaufnahmen von Gebäuden stoßen die Mitarbeiter immer wieder auf das gleiche Problem: fehlende Informationen, welche Materialien verbaut wurden, da Gebäudepläne bei einem Besitzerwechsel oft nicht übergeben werden. Zwei weitere Startups beschäftigen sich mit Beton – immer noch Baustoff Nummer eins, der aufgrund der energieintensiven und CO₂-emittierenden Herstellung insbesondere von Zementklinker oft als Klimakiller betitelt wird. Ziel von alcemy ist es, den Anteil an Zementklinker im Beton auf einen Bruchteil zu reduzieren, ohne dass die Druckfestigkeiten beeinträchtigt werden. Gelingen soll dies mittels KI-gestützter Software, die eine Steuerung der Produktionsqualität ermöglicht. Die Materialwissenschaftler Sam Draper und Barney Shanks von Seratech wiederum haben einen kohlenstoffneutralen Beton entwickelt auf Basis von Kieselsäure als Zementersatzmaterial. Der große Vorteil: Die Technik kann in die bestehenden Verfahren und Anlagen der Betonhersteller integriert werden. So werde die Akzeptanz von Seiten der Bauindustrie und auch der Investoren erhöht, hoffen die Erfinder.
Deren Vertreter von Opes, Art-Invest, Signa, Rieder und Hines zeigten sich in den Diskussionsrunden gegenüber innovativen Lösungen durchaus offen. Im Gespräch mit Teilnehmenden aus Stadtplanung, Baupolitik und Lehre wurden die vielschichtigen Herausforderungen nachhaltigen Bauens aber nochmals deutlich – von der Finanzierung über Ästhetik- und Komfortfragen bis hin zu den Herausforderungen des sortenreinen Recyclings von Baustoffen. Moderator Jan Friedrich brachte die Problematik auf den Punkt mit seinem Fazit, sobald es in der Baubranche um Sonderlösungen gehe, bedeute das jedes Mal einen Riesenaufwand.
Man kam schließlich zu der Erkenntnis, dass für Umnutzungen im Bestand die Spielregeln geändert werden müssten. Das haben auch die Architektenkammern erkannt und schlagen einen neuen Gebäudetyp E vor, für den reduzierte Normen und Richtlinien gelten, und der dadurch wieder mehr Freiheiten beim Bauen erlaubt. Denn nur genutzte Gebäude sind letzten Endes nachhaltige Gebäude.
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