Bauwelt

Wertschätzung und Widerstand

Städte sind immerzu am werden und niemals am sein, so wie Karl Scheffler einst Berlin beschrieben hat. Die konstante Veränderung der Stadt ist ein gesellschaft­licher Prozess, verändernde Ansprüche und Praktiken finden Ausdruck in baulichen Formen. Ist ein Stadtteil aber gebaut, so werden Anpassungen ungleich schwieriger. Wie kann Städtebau und im besonderen der Stadtgrundriss die Wiederverwendbarkeit städtischer Strukturen fördern?

Text: Salewski, Christian, Zürich

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    Widerstand: zwei gegeneinander verschobene Netzhierarchien, hier in Form von konventionellen Straßen und Bebauung mit den Wegen durch das Rotationssystem der Landwirtschaft, bilden ein „alternating net“. Dieses sichert eine langfristige Integration von Landschaft und Siedlungsraum.
    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

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    Widerstand: zwei gegeneinander verschobene Netzhierarchien, hier in Form von konventionellen Straßen und Bebauung mit den Wegen durch das Rotationssystem der Landwirtschaft, bilden ein „alternating net“. Dieses sichert eine langfristige Integration von Landschaft und Siedlungsraum.

    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

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    Anpassungsfähigkeit: das Prinzip der „tiefen Kruste“ beschreibt die Möglichkeit, je nach Lage eine oder mehrere Bautiefen auszubilden, was eine Konzen­tration der Aktivität im öffentlichen Raum sowie die Ausbildung rückwärtig liegender, gemeinschaftlicher Bereiche fördert.
    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

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    Anpassungsfähigkeit: das Prinzip der „tiefen Kruste“ beschreibt die Möglichkeit, je nach Lage eine oder mehrere Bautiefen auszubilden, was eine Konzen­tration der Aktivität im öffentlichen Raum sowie die Ausbildung rückwärtig liegender, gemeinschaftlicher Bereiche fördert.

    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

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    Wertschätzung: Sorgfältig gestalteter öffentlicher Straßenraum
    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

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    Wertschätzung: Sorgfältig gestalteter öffentlicher Straßenraum

    Abb.: „Leben im Garten des 21. Jahrhunderts. Pilotprojekt für einen integrierten Lebensraum im Berner Osten“ von Christian Salewski & Simon Kretz Architekten, Zürich; TEAMverkehr, Zug; Arquitectura Agronomia, Barcelona; Gehl, Kopenhagen und Office of Living Things, Zürich/New York

Wertschätzung und Widerstand

Städte sind immerzu am werden und niemals am sein, so wie Karl Scheffler einst Berlin beschrieben hat. Die konstante Veränderung der Stadt ist ein gesellschaft­licher Prozess, verändernde Ansprüche und Praktiken finden Ausdruck in baulichen Formen. Ist ein Stadtteil aber gebaut, so werden Anpassungen ungleich schwieriger. Wie kann Städtebau und im besonderen der Stadtgrundriss die Wiederverwendbarkeit städtischer Strukturen fördern?

Text: Salewski, Christian, Zürich

Ich schreibe aus einer europäischen Perspektive der modernen, industrialiserten Gesellschaft. Städtebau als eigene Disziplin enstand hier ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen eines rasanten Stadtwachstums, das – wenn auch mit großen zeitlichen und örtlichen Schwankungen – bis heute andauert.
Es gibt viele Faktoren für die Entscheidung, städtische Strukturen wie Gebäude und Infrastruktursysteme wiederzuverwenden, anzupassen oder zu ersetzen. Wiederverwendung und Anpassung bedeutet, neue Anforderungen ganz oder teilweise an bestehenden Strukturen auszurichten. Dies ist meist anspruchsvoller als ein Ersatz durch neue Strukturen, die vollständig auf neue Anforderungen ausgerichtet werden können.
Ich vermute, dass es für Wiederverwendung und Anpassung städtischer Strukturen vor allem zwei Gründe gibt: Wertschätzung und Widerstand. Wertschätzung führt zu Erhalt und behutsamer Anpassung der gebauten Stadt, beispielsweise in historischen Zentren. Erhalt aufgrund von Wertschätzung bedarf immer politischer und ökonomischer Durchsetzungskraft. Dies zeigt sich in der no-growth Bewegung, die vor allem
in gesellschaftlich gut situierten Wohnquartieren erfolgreich ist. Widerstand hingegen kann verschiedene Dimensionen haben. Für städtische Strukturen sind vor allem politische Machbarkeiten und finanzielle Tragbarkeit die relevanten Widerstände für großflächigen Ersatz.
Widerstand
Im Gegensatz zur Wertschätzung spielt die bauliche Form der Stadt beim Widerstand eine eigene, aktive Rolle: einmal erstellt, kann sie als wichtiger Aktant im Sinne Bruno Latours wirken und ohne Beitrag menschlicher Akteure Bedingungen setzen. Diesen Gedanken möchte ich hier für den Stadtgrundriss weiterverfolgen.
Um die Anpassungsfähigkeit städtebaulicher Strukturen zu diskutieren, beginne ich mit der Voraussetzung für nahezu alle baulichen Tätigkeiten: der Parzelle. Die Form der Parzellierung der Stadt wird als Stadtgrundriss bezeichnet. Auf dieser unsichtbaren Struktur ensteht die gesamte gebaute Form der Stadt.
Mit der Unterteilung des Bodens in Parzellen beginnt die bauliche Entwicklung der Stadt. Durch Eigentums- und Nutzungsrechte sowie einer etablierten Rechtskultur wird aus parzelliertem Boden eine handel- und beleihbare Ressource. Die Haupttreiber für Veränderungen in der baulichen Form der Stadt sind Veränderungen der Nutzungsrechte. Höhere bauliche Dichte oder neue Nutzungsarten führen zu höherer Profitabilität bei bau­lichen Maßnahmen. Wie reagiert nun die Stadtstruktur auf den dadurch entstehenden Druck?
Parzellierungen sind aufgrund ihrer Bebauung schwer zu verändern. Die Lebenszyklen der Gebäude variieren, Sanierungsintervalle und Abschreibungsdauer weichen mit zunehmendem Alter immer weiter voneinander ab. Die Parzellierung gilt daher als schwer veränderbar, sie erzeugt Widerstand. Dieser Widerstand ist um so größer, je kleinteiliger die Parzellierung ist. Die gegenseitige Stabilisierung der Parzellen beschränkt die Anpassung auf ein Grundstück, wodurch dem Umfang der Veränderung buchstäblich Grenzen gesetzt werden. Sind die Parzellen klein, dann ist der finanzielle Aufwand für eine Anpassung zugleich aber gering. Die kleinparzellierte Stadtstruktur wird dadurch agil, Gebäude und Nutzungen können weitgehend unabhängig voneinander schnell angepasst werden. Kleinparzellierte Quartiere entziehen sich so dem Einfluss größerer Akteure. Eine großmaßstäblichere Veränderung entsteht – im Guten wie im Schlechten – erst inkrementell durch das Zusammenwirken vieler einzelner Veränderungen.
Nach einer Untersuchung historischer Stadtzentren in seinem Buch „Die Architektur der Stadt“ hat Aldo Rossi 1966 die Parzellierung – und damit den Stadtgrundriss – als permanent bezeichnet. Doch die Parzellierung verändert sich, wenn auch sehr langsam und aufwändig, durch Parzellenzusammenlegungen und Parzellenteilungen. Der Einfluss dieser Eingriffe auf die Adaptierbarkeit der Stadt und auf ihren baulichen Ausdruck können enorm sein, da sich die Maßstäblichkeit von Nutzungen und Gebäuden stark verändert. Bei hohem Entwicklungsdruck begrenzen erst die um­gebenden Wege, Straßen und Plätze als öffentliche Räume in öffentlichem Eigentum die Entwicklungsgröße. Große Bauvorhaben enstehen dann nicht mehr auf der Parzelle, sondern über den gesamten Block, auf französisch îlot. Jaques Lucan hat diese Typologie in seinem Buch „Où va la ville d’aujourd’hui?“ 2012 daher „Macrolot“ genannt.
Macrolots und noch größere Einheiten ermöglichen andere bauliche Formen und Nutzungen in der Stadt. Großparzellierte Quartiere sind zunächst träge, da die Investitionsgrößen erheblich sind. Oft führt eine stark integrierte Gestaltung zu Abhängigkeiten zwischen Infrastruktur und Gebäuden, die Widerstand gegen kleinteilige Anpassungen bieten. Kommt hingegen ein Ensemble gesamthaft in einen Erneuerungszyklus, kann in relativ kurzer Zeit eine erhebliche Veränderung stattfinden.
Die oben genannte Entwickung in Macrolots geht zwar inzwischen oft einher mit der Unterteilung in klar unterscheidbare Häuser mit unter­schied­lichen Architekturen und Eigentümerschaften, zugleich sind diese aber meist über die gemeinsame Tiefgarage und andere geteilte Infrastrukturen verbunden. Integrierte Entwicklungen schränken so die Anpassungsfähigkeit ein. Ob kleinteilige Nutzungsänderungen und Erneuerungszyklen in diesen Strukturen möglich sind, kann bezweifelt werden. Früher haben dies Brandwände geleistet. Für Macrolots müssen noch neue Modelle der Systemtrennung innerhalb der blockgroßen Strukturen gefunden werden. Eine konsequente Parzellierung und das öffentliche Straßennetz mit den darunterliegenden technischen Infrastrukturen erreichen hin-gegen bereits einen hohen Grad an Systemtrennung nach Lebenszyklen.
Wie können wir mit dem städtebaulichen Entwurf auf die langfristige Anpassungsfähigkeit der Stadt einwirken, um Wiederverwendung und Anpassung zu fördern und großmaßstäblichen Ersatz zu vermeiden? Meine erste Anwort liegt im “scaling” des Widerstands, dem Entwurf der Maßstäbe. Der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit der Stadtstruktur liegt wahrscheinlich in den Blockgrößen. Die Parzellierung ist zwar auch ein wichtiger Faktor, bietet langfristig aber möglicherweise zu wenig Widerstand gegen großen Entwicklungsdruck. Erst Straßen, Wege und Plätze in öffent­lichem Eigentum begrenzen die Entwicklungsgröße.
Die Frage nach der idealen Blockgröße wurde bereits in den frühen Schriften zum Städtbau thematisiert, ohne eine allgemeingültige Antwort zu finden. Nutzung, Topografie und Geschichte haben Einfluss auf die jeweilige Eignung. Dennoch scheinen sich gewisse Größenordnun­-gen zu wiederholen. Ildefonso Cerdá leitete aus einer vergleichenden Betrachtung 1860 den berühmten quadratischen Barcelonablock der Ensanche mit 113 Meter Kantenlänge ab und beklagt die Praxis der Unterteilung von größeren Blöcken und den damit einhergehenden Verlust der innenliegenden Gärten. Joseph Stübben hielt 1890 je nach Nutzung 35 bis 100 Meter Tiefe und 120 bis 200 Meter Länge für geeignet und lobte die Nutzbarkeit unregelmäßiger Geometrien. Frits van Dongens Blöcke in IJburg Amsterdam von 1999 variieren zwischen 80 und 90 Meter Tiefe bei 175 Meter Länge. Werner Hegemanns Berliner Blöcke hingegen galten mit, der preußischen Sparsamkeit geschuldeten, Kantenlängen mit bis zu weit über 200 Meteren bereits Zeitgenossen als überdimensioniert und unpraktisch.
Die üblichen Gebäudetiefen sind durch Mechanisierung der Lüftung und elektrischem Licht größer geworden und lassen 35 Meter Kantenlänge heute als klein erscheinen. Dennoch lassen sich aus den frühen Überlegungen noch Erkenntnisse ziehen. Die Blocktiefe entscheidet, ob es noch eine zweite oder gar dritte Bautiefe geben kann. Zugleich limitiert sie die Höhenentwicklung der Gebäude aufgrund der Belichtung und ermöglicht oder verhindert gut besonnte Freiräume im Innenbereich.
Ildefonso Cerdá hat in seinem Entwurf auch den Zusammenschluss zu Superblöcken aufgezeigt. Dabei wird die allseitige Bebauung aufgegeben, so dass ein blockübergreifender Freiraum im Inneren entsteht. Die einfache allseitige Adressierung von den Straßen hat diese Entwicklung ebenso wie blockübergreifende Bebauungen verhindert: Mit dem Entwurf des Stadtgrundrisses über die Blockgrößen und die sorgfältige Trassierung und Hierarchisierung der Wegnetze kann der Widerstand der städtischen Form gegenüber Anpassungsdruck gesteuert werden.
Aus einem parzellen- und blockbasierten Städtebau muss nicht zwingend eine Rasterstadt entstehen, aber ein redundantes, robustes Straßen- und Wegenetz. Mit dem Modell des „alternating net“ ist Kevin Lynch 1981 in seinem Buch „Good City Form“ eine meisterhafte Darstellung der inhärenten Elastitzität dieser Netze gelungen: während sich einige Straßenzüge transformieren, können andere in der Entwicklung zurückbleiben und sich später verändern. Eine Spezialisierung in Teilnetze ist möglich, diese können sich aber auch wieder annähern. Der Anpassungsfähigkeit sind wenig Grenzen gesetzt, aber die Orientierung bleibt stets gewährleistet und die Grundmaßstäblichkeit ist verbindlich.
Wertschätzung
Meine zweite Antwort für den städtebaulichen Entwurf ist das Sicherstellen urbaner Qualitäten. Durch sorgfältig entworfene Stadtgrundrisse und gut gestalteten öffentlichen Raum können wir die eingangs erwähnte Wertschätzung für ein Quartier fördern. Gerade den Herausforderungen von Klimawandel und Biodiversitätsverlust müssen wir mit der Gestaltung und Dimensionierung der Straßen- und Platzräume begegnen: großkro­nige, nicht unterbaute Bäume kühlen die Stadt, unversiegelte Flächen und Retentionssysteme ermöglichen ein kluges Wassermanagement, eine hohe Porosität und Habitate fördern die Biodiversität. Die langfristige Wertschätzung urbaner Räume ensteht letztlich durch Beziehungsreichtum und Beziehungsqualität, die ein produktives Miteinander ermöglichen: der Entwurf des öffentlichen Raums und seiner Übergänge zu den privaten Räumen ist und bleibt die wichtigste Aufgabe im Städtebau, um zur langfristigen Wiederverwendung der Stadt beizutragen.

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