Bauwelt

Stadt der Nachbarschaften

Geht es um das Wohnen, liegen die drängenden Themen auf der Hand: klimagerechtes Bauen, Bezahlbarkeit, Mieten- und Bodenpolitik. Erst auf den zweiten Blick gerät die Nachbarschaft als geeigneter Maßstab für die Gestaltung unserer Lebens- und Wohnwelten in den Fokus. Sie ist klein genug, um greifbar zu sein, und groß genug, um etwas zu bewirken. Über die Wohnung hinaus wird die Nachbarschaft zur eigentlichen Arena für Veränderungen und ein nachhaltiges Leben.

Text: Overmeyer, Klaus, Berlin

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Neue Rollen, gemeinsame Interessen

Abbildung: Urban Catalyst

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Stadt der Nachbarschaften

Geht es um das Wohnen, liegen die drängenden Themen auf der Hand: klimagerechtes Bauen, Bezahlbarkeit, Mieten- und Bodenpolitik. Erst auf den zweiten Blick gerät die Nachbarschaft als geeigneter Maßstab für die Gestaltung unserer Lebens- und Wohnwelten in den Fokus. Sie ist klein genug, um greifbar zu sein, und groß genug, um etwas zu bewirken. Über die Wohnung hinaus wird die Nachbarschaft zur eigentlichen Arena für Veränderungen und ein nachhaltiges Leben.

Text: Overmeyer, Klaus, Berlin

1983 entwickelte der Schweizer Autor und Philologe Hans Widmer die sozialanarchistische Utopie bolo’bolo. Dahinter verbirgt sich die Idee eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens von mehreren hundert Menschen in lokalen Nachbarschaften, den bolos. Der Ansatz ist radikal: Jeder Bolobewohner darf nicht mehr besitzen, als in eine tragbare Kiste passt, die persönliche Nutzfläche wird auf ein geringes Maß reduziert, dafür können alle von Gemeinschaftseinrichtungen wie einem Nachbarschaftsrestaurant oder einem Bad profitieren, und jedes Bolo erhält seine Nahrung über eine vertraglich gesicherte regionale Landbewirtschaftung.
Was als radikale Utopie bei vielen zunächst auf Skepsis stößt, wird aus unterschiedlichen Perspektiven heute in Diskussionen über künftige Wohn- und Stadtmodelle thematisiert. Ob die Reduktion des städtischen und individuellen Flächenverbrauchs, die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchsgütern und Räumen, der Aufbau von nachbarschaftlichen Einrichtungen durch unterschiedliche Grundstückseigentümer eines Quartiers oder die Rückkehr von produktiven Nutzungen in Wohnviertel – hinter all diesen Ansätzen steht die Ambition, weniger Ressourcen zu verbrauchen und mehr Lebensqualität in Nachbarschaften zu schaffen.
Hintergrund ist die Tendenz, dass sich globale Umbrüche verstärkt in unserem alltäglichen Lebensumfeld niederschlagen, sei es in Form von hereinbrechenden Krisen wie Überflutungen, Hitze, Flüchtlingsbewegungen oder der Pandemie. Längst haben uns auch technologische Neuerungen zu Trägern eines Wandels gemacht, mit dessen Folgen wir konfrontiert sind. Beim Einkaufen fallen uns leere Kaufhäuser auf, gleichzeitig boomt der Onlinehandel. Der jahrzehntelange Ausbau des Autoverkehrs stößt in Zentren und an Hauptverkehrsstraßen an seine Grenzen. Der immense Flächenverbrauch und die Luft- und Lärmbelastung durch den Verkehr machen Orte unattraktiv für Menschen, die dort leben, arbeiten oder sich einfach nur treffen wollen. Unsere Renten zahlen wir in Fonds ein, die Teil eines dynamischen Immobilien- und Bodenmarktes sind, der in den letzten Jahren dazu geführt hat, dass sich viele Menschen das Wohnen in ihrer bevorzugten Gegend nicht mehr leisten können.
Während der Pandemie wurde für viele die Wohnung zum Büro, für Kinder das Schlaf- zum Klassenzimmer, wir waren weniger unterwegs, gleichzeitig wurden Freiräume wichtiger. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie komplex und tiefgreifend die Veränderungen unserer Lebensweise und ihre räumlichen Auswirkungen sind. Doch was bedeuten sie nun für das Wohnen und unsere Arbeit als Architektinnen?
Eines hat die jüngste Zeit gezeigt: Wohnen hört nicht an der Grundstücksgrenze auf. Unsere Lebensqualität wird in Zukunft vom Gelingen abhängen, die Nachbarschaft zum festen Bestandteil des Wohnens zu machen. Umso mehr, wenn wir über eine nachhaltige Bauweise hinaus Grundstück und Gebäude als Teil eines größe­-ren Ganzen sehen, als Teil einer Nachbarschaft, die wiederum in ihr städtisches bzw. ländliches Umfeld eingebettet ist. Städte und Kommunen werden mit ihren Vierteln, Veedeln, Kiezen und Dörfern in Zukunft zu Schauplätzen der Veränderung, in denen vieles, was uns in unserem täglichen Lebensumfeld bisher selbstverständlich erschien, infrage gestellt, weiterentwickelt und neu ausgehandelt werden muss. Hier wird erfunden, wie wir künftig produzieren und konsumieren, arbeiten und leben, uns fortbewegen, kommunizieren und kooperieren. Dabei könnte die Wechselbeziehung zwischen Wohnung, Haus, Parzelle und Nachbarschaft zur treibenden Kraft für mehr Lebens- und Wohnqualität werden: Was bietet die Nachbarschaft für die Nutzerin eines Hauses und welchen Beitrag leistet ein Haus für seine Nachbarschaft?
Nachbarschaft mit neuen Rollen
In der Praxis wird diese Frage nach einem bewährten Muster beantwortet: Die öffentliche Hand hat die Planungshoheit und kümmert sich um den öffentlichen Raum, Infrastruktur, Schulen und Kitas, private Eigentümer um das eigene Grundstück. Dabei gibt es bei größeren Entwicklungsvorhaben bereits heute zahlreiche Instrumente, die einen Ausgleich zwischen einem gemeinwohlorientierten Mehrwert für das Quartier und privatwirtschaftlicher Tragfähigkeit schaffen. In Zukunft wird es darum gehen, Wohnungsbau und Nachbarschaftsentwicklung auch über die gängigen Instrumente hinaus stärker miteinander zu verzahnen, ob im Bestand oder auf freier Fläche. Voraussetzung für dieses erweiterte Verständnis ist, dass unabhängig von den Rahmensetzungen und Entwicklungsabsichten für einzelne Grundstücke hinaus unter den Akteuren eines Quartiers die Bereitschaft unterstützt wird, sich auf seine Nachbarn einzulassen und eine gemeinsame Zukunftsidee für die Nachbarschaft zu entwickeln. Dabei gibt es kein Patentrezept, das für alle Nachbarschaften taugt. Vielmehr gilt es, bei anstehenden Veränderungen in einem Quartier einen Rahmen für die öffentlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort zu schaffen, in dem die Talente einer Nachbarschaft und ihre künftigen Qualitäten sichtbar werden können.
Oftmals liegt das Besondere eines Ortes im Selbstverständlichen, das nicht infrage gestellt und erst bei genauerem Hinschauen erscheint. Das können ungenutzte Garagen sein, die für große Autos zu klein geworden sind, die Pferdekoppel im Gewerbegebiet oder der verrohrte Bach hinter dem Discounter. Eine gemeinsam getragene Vision für eine Nachbarschaft kann dann entstehen, wenn die Akteure vor Ort darin einen Mehrwert für sich sehe. Trotz aller Unterschiede von Nachbarschaften, die Hebel für mehr Wohn- und Lebensqualität bei gleichzeitiger Verdichtung der Nutzungen zielen vielfach in eine ähnliche Richtung. Drei Ansätze:
1. Begegnungsorte
Lebendigkeit entsteht, wenn Menschen einen Anlass haben, sich über den Weg zu laufen. Was einfach klingt, findet heute in vielen Nachbarschaften nicht mehr statt, weil Autos in Tiefgaragen verschwinden, Kinder nicht mehr auf der Straße spielen können, woanders eingekauft, Sport getrieben und Freunde getroffen werden. Nachbarschaften sind Ressourcen für Begegnung: Wenn Leute zu Fuß in die Quartiersgarage oder zur Bahn laufen oder wenn es mehr Anlässe dazu gibt wie ein Restaurant, gemeinsam genutzte Lagerflächen, eine Kinderspielhalle oder ein Badehaus.
2. Besser erreichbar mit weniger Autos
Der ruhende Verkehr birgt große Potenziale, einen Teil der Flächen in öffentliche Freiräume umzugestalten und damit die Aufenthaltsqualität zu erhöhen. Eine Möglichkeit für Kommunen ist es, die Reduktion des Stellplatzschlüssels an ein Mobilitätskonzept im Quartier zu koppeln. Bauherren sparen Kosten bei der Herstellung von Parkplätzen und schaffen durch Radstellplätze, Ladestationen und Sharingangebote Anreize für den Umstieg auf postfossile Mobilität.
3. Nachbarschaftsnatur als gemeinsames Gut
Wenn eine Nachbarschaft über attraktive Freiräume verfügt, die allen gemeinschaftlich für Erholung, Begegnung, zum Spielen und Gärtnern zur Verfügung stehen, bedarf es weniger Wohnfläche und weniger Aktivitäten außerhalb des Quartiers, um sich im Alltag wohlzufühlen. Dies gilt umso mehr, wenn Freiräume auch das Mikroklima verbessern und die Biodiversität fördern.

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