Zeit für Erholung
Städtetourismus hat einen Preis, dem die Bewohner, aber auch die Reisenden Tribut zollen. Die erlebnisorientierte Vermarktung von Ausflugszielen läuft der Idee des Urlaubs zuwider, Erholung zu finden. Eine Alternative kann ein Landurlaub sein.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Zeit für Erholung
Städtetourismus hat einen Preis, dem die Bewohner, aber auch die Reisenden Tribut zollen. Die erlebnisorientierte Vermarktung von Ausflugszielen läuft der Idee des Urlaubs zuwider, Erholung zu finden. Eine Alternative kann ein Landurlaub sein.
Text: Landes, Josepha, Berlin
Urlaub – was ist das überhaupt? Hauptsächlich beschäftigt sich diese Stadtbauwelt mit einem Zuviel davon, beziehungsweise präziser: der Überbeanspruchung von Orten durch Menschen, die dort Urlaub machen. Aber weshalb reisen Menschen an fremde Orte um dort ihren Urlaub zu verbringen? Und ist Reisen gleich Tourismus? Reisen ist an sich nichts weiter als die Fortbewegung von einem Ort zum anderen. Tourismus ist die Vermarktung dieser Fortbewegung, sowie aller Ereignisse, die damit einhergehen. Und im Urlaub reisen wir, um zu finden, was wir zu Hause (vermeintlich?) nicht haben. Dabei ist Reisen unvermeidlich, mehr oder weniger eng, an Tourismus gekoppelt – Taxis, Züge, Flugzeuge sind ebenso Teil des Systems wie Hotellerie, Gastronomie und Souvenirshops. Urlaub könnte davon deutlich unabhängiger sein.
Der Definition nach ist der Zweck des Urlaubs allem voran Erholung. Die Idee einer freien Zeit unter Lohnfortzahlung geht zurück auf die Zeit der Industrialisierung – genauer gesagt war es eine Reaktion auf die damaligen, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. 1895 wurde den Arbeitern gesetzlich die Sonntagsruhe als ein kleines Privileg zugestanden. Weiterreichender Urlaubsanspruch entwickelte sich nur sehr gemächlich: 1903 gab es drei freie Tage im Jahr für Brauereiangestellte in Stuttgart und Thüringen, nach dem Ersten Weltkrieg konnten einige weitere Gewerkschaften Urlaubstage durchsetzen, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Urlaub in beiden deutschen Staaten gesetzlich verankert. Der Mindesturlaub von 24 Tagen gilt seit 1977. Die meisten tarifgebundenen Wirtschaftszweige gewähren heute sechs Wochen Urlaub. Der Sinn dieser verordneten Erholung war und ist dabei der Leistungserhalt der Arbeiter. Erholung zielt nämlich auf nicht mehr und nicht weniger als die Regeneration körperlicher und geistiger Kräfte.
Drehen wir das Problem dieser Ausgabe einmal um: Anstatt danach zu fragen, wie gut oder schlecht Urlaub und Reisen für die Urlaubsorte ist, steht hier die Frage im Raum, wie gut diese Orte für die Urlaubsreisenden sind. Viele von ihnen erfüllen eher die Bedürfnisse der Tourismusindus-trie als die der Urlauber. Und das nicht selten ohne, dass es diesen bewusst wäre. Der Reisende wird vom Subjekt zum Objekt; der Tourismus gibt ihm nichts, sondern nimmt von ihm. Nicht anders ergeht es den Zielen des Tourismus. Deshalb ist eine Verbrüderung von Urlaubern und Orten überfällig – es wird Zeit für Erholung.
Bedürfnisse erkennen
Die Angebotsvielfalt an Urlaubsreisen, gepaart mit der allgegenwärtigen Multimedialität, bedingt, dass man leicht den Überblick verliert und, statt dem eigenen Bedürfnis nachzuspüren, vielleicht ein Mal zu oft dem Erlebnistourismus aufsitzt oder dem Städtetourismus zuspricht.
Schritt eins zum erholsamen Urlaub ist Erkenntnis. Die Welt hat sich seit der Industrialisierung deutlich verändert und damit einher geht auch, dass der Weg zur Erholung heute ein anderer ist. Erholung stellt sich ein durch Abwechslung vom Alltag. Ein weitverbreitetes Problem heutiger Erwerbstätiger sind aber nicht mehr die schlechte Luft in Fabriken und Eintönigkeit, sondern sind Stress und Bewegungsmangel. Zudem wohnen immer mehr Menschen in Städten. Wie viel Erholung bietet also eine Reise in eine Stadt voller Urlauber?
Eine Abwechslung kann sein, ländliche Regionen zu bereisen, bestenfalls nicht in der Hauptsaison, denn viele Strände sind dann voll, Gipfelpfade ausgetreten. Europa ist ziemlich abgegrast – wem zwei Wochen mit dem Buch in der Hand im Liegestuhl zu erholsam sind, der wird sich wohl oder übel auf den einen oder anderen Kompromiss einstellen müssen. Nichtsdestoweniger existiert er, der Trend zum nachhaltigen Reisen. Die Idee dahinter verkauft sich gewinnträchtig unter dem Slogan „Achtsamkeit“, ist aber nicht wirklich neu: Ferien auf dem Bauernhof, Wandern, Fahrradfahren. Urlaub machen muss nicht Erlebnis bedeuten, um „instagramable“ zu sein. So wie Biobauernhöfe und -läden Zuspruch erfahren, sind auch eine Vielzahl von ländlichen Regionen bemüht, Ihre Potenziale für den Fremdenverkehr in Einklang mit den Interessen ihrer Natur und Einwohner zu bringen. Die Gemeinde Texel, westlichste der Ostfriesischen Inseln, in Noord-Holland ist eine davon.
Ein Beispiel
Texel wirbt damit, den Gästen die Niederlande kompakt auf einer Insel zu präsentieren: Strände, niedliche Dörfer, Dünen und Deiche, Kanäle, Polder, Fahrräder, Kühe und Schafe, verstreut über platte 460 Quadratkilometer, heftig durchgepustet und begleitet von überdurchschnittlich oft hervorlugender Sonne. Texel ist eine touristische Insel, die sich zu verkaufen weiß, ohne dabei Ausverkauf zu betreiben. Der reichhaltigen Natur gilt hohe Beachtung, nahezu flächendeckend erstrecken sich Naturschutzzonen. Dennoch ist die Insel im Sommer rappelvoll. Zu den 17.000 Einwohnern gesellen sich dann 47.000 Gäste hinzu, die auf Campingplätzen, Zeltgelegenheiten bei Bauern, in Bed and Breakfasts und Hotels unterkommen.
Auf dem Land sind es selten große Erlebnisse, die den Urlauber erwarten, vielmehr kann er vieles entdecken, das er niemals vorhatte zu entdecken. Städtereisen gipfelt nicht selten in das Abhaken von Sehenswürdigkeiten. Beim Landurlaub ist Dasein das Ziel, weniger mehr.
Sogar Napoleon war auf Texel. Er verstärkte 1811 das Fort, das Willem van Oranje 240 Jahre vorher zur Verteidigung gegen die Spanier angelegt hatte. Im Zweiten Weltkrieg hielten die Deutschen die Insel besetzt und integrierten sie in ihren Nordatlantikwall. Die Wehrmacht hatte hier ihr Georgisches Bataillon stationiert – eine Einheit, die im April 1945 rebellierte.
Auch Kenntnisse der Seefahrtgeschichte lassen sich hier vertiefen: Die Segelschiffe der Ostindischen Handelskompagnie VOC lagen zum Teil monatelang hinter der Insel auf Reede, wartend auf günstige Ost-Winde.
Naturentdeckungen bietet Natururlaub sowieso. Ob auf Dünen-Wanderungen, beim Drachensteigenlassen oder in der Seehund-Auffangstation: Man kann der Neugier freien Lauf lassen und auch Zwischentöne hören. In Museen und auf auf Bauernhöfen lässt sich zudem traditionellem Handwerk wie Käsemachen, der Viehpflege oder der Strandräuberei nachspüren. Letzteres ist typisch Insel: nicht ganz legal. Das Sammeln brisanten Strandguts kann mit bis zu 250 Euro geahndet werden, etwa wenn es sich dabei um Fernseher handelt. Dabei entspricht die althergebrachte Tätigkeit im Grund dem Zeitgeist des „Upcycling“. Denn hauptsächlich wird kiloweise Plastik und anderer Müll an Texels Strände getrieben. Aus Bojen basteln die „Jutter“ genannten Strandräuber Hocker oder Aschenbecher, gefundene Planken wurden schon früher zu Baumaterial.
Sogar architektonische Schätze hält das Land vor. Zum einen sind das vernakuläre Bauweisen. Immer wieder sieht man auf Texel Schafscheunen, die aus der Distanz betrachtet wirken wie allein gebliebene Doppelhaushälften. Dabei ist die Form wohldurchdacht: Der Giebel an der Westseite bietet Windschatten für Schafe und für die Bauern beim Heueinbringen. Zum anderen wird auch abseits der Metropolen Neues gebaut. Museen und Besucherzentren entstanden nicht zuletzt unter Federführung von Dorte Mandrup – Wadden Sea Centre in Esbjerg, 2017 – und Staab Architekten – Kunstmuseum in Ahrenshoop, 2013 – im ländlichen Raum. Weniger bekannt ist das von Mecanoo entworfene Museums Kaap Skil auf Texel, das 2011 eröffnete. Hinter einer Lamellenfassade, deren Holz aus alten Hafenspundwänden hergestellt wurde, können die Besucher Strandfunde durchstöbern.
Außerdem bietet Landurlaub den idealen Anlass, einmal nicht mit dem Flugzeug zu reisen. Texel ist ein gutes Ziel für einen Roadtrip oder eine Reise mit dem Zug. Die Anbindung von Amsterdam Centraal ist minutiös getaktet. Solch eine Fahrt ist mehr als ein Weg – als Bewegung zwischen Alltag und Urlaub fungiert sie als Puffer, in dem die Welt sich allmählich von einem Dort zum Hier verwandelt.
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