Bauwelt

Visionäres von gestern – Ideen für heute?

Das Deutsche Architekturmuseum zeigt die grandiosen Zeichnungen und Collagen von Future Systems und Archigram

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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    „Shelter“, nach dreißig Jahren so aktuell wie zur Entstehungszeit. 1985 entwarfen Future Systems angesichts der Hungerkatastrophe in Äthiopien eine hightech-Zeltkonstruktion als Notunterkunft.
    Foto: © Kaplický Centre

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    „Shelter“, nach dreißig Jahren so aktuell wie zur Entstehungszeit. 1985 entwarfen Future Systems angesichts der Hungerkatastrophe in Äthiopien eine hightech-Zeltkonstruktion als Notunterkunft.

    Foto: © Kaplický Centre

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    Auch eine temporäre Struktur, aber für eher hedonistische Zwecke: „Instand City – Local Parts“ von Archigram, 1970.
    Foto: © Deutsches Architekurmuseum

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    Auch eine temporäre Struktur, aber für eher hedonistische Zwecke: „Instand City – Local Parts“ von Archigram, 1970.

    Foto: © Deutsches Architekurmuseum

Visionäres von gestern – Ideen für heute?

Das Deutsche Architekturmuseum zeigt die grandiosen Zeichnungen und Collagen von Future Systems und Archigram

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Kapselhäuser, Weltraumstationen, Blobs. Unter dem Titel „Zukunft von gestern“ präsentiert das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main die detailreichen Zeichnungen, knallbunten Collagen und filigranen Modelle der Architektengruppen Future Systems und Archigram. Rund 40 „Klassiker“ aus der Archigram-Sammlung des Museums und etwa ebenso viele Arbeiten aus dem Kaplický Centre in Prag sind zu sehen.
Viele der Schlüsselwerke von Archigram konnte das DAM aus dem Depot holen, so die psychedelisch bunten, zum Teil aus Slogans und überarbeiteten Zeitschriften-Bildern bestehenden Col­lagen, mit denen die 1961 in London gegründete Gruppe um Peter Cook, Ron Herron und Dennis Crompton vom architektonischen Insider-Tipp zur festen Größe der internationalen Popkultur der „Swinging Sixties“ avancierte. Ihre durchgeknallten Ideen von senkrechten Megastrukturen mit austauschbaren Wohnzellen („Plug-In City“), von Wohnmaschinen, die, sich auf Stelzen fortbewegend, an riesige Insekten erinnern („Walking City“), von Kultur- und Freizeitangeboten, die, mit dem LKW oder Luftschiff transportiert, in Woodstock-Manier die Landbevölkerung auf­mischen („Instant City“) – allesamt lassen sie den damaligen Lifestyle eindrucksvoll wieder aufleben. Und noch heute verströmen sie einen geradezu magischen Charme.
Der Fokus der Ausstellung aber liegt auf dem Werk des tschechischen Architekten Jan Kaplický (1937–2009). 1968 nach London emigriert, entwarf Kaplický parallel zu seiner Mitarbeit an Bauten renommierter Kollegen (u.a. am Centre Pom­pidou von Renzo Piano + Richard Rogers und der Hong Kong & Shanghai Bank von Norman Foster) unter dem Namen „Future Systems“ zunächst zusammen mit David Nixon, später mit Amanda Levete Architektur-Visionen, die zum allergrößten Teil Papier blieben. Die ungeheuer realistisch wirkenden Fotocollagen von autarken Kapseln, die in unterschiedlichste Landschaften wie Berge, Steppe oder Ufer hineinmontiert sind, oder von Bauten, die in hoch verdichtete Innenstadtquartiere implantiert wurden, sind nicht nur in architekonischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht bemerkenswert.
Jan Kaplický und David Nixon lernten sich Mitte der 70er Jahre in einem Londoner Büro bei der Planung der Brighton Marina, dem damals größten Yachthafen der Welt, näher kennen. Nixon war zuvor bei Norman Foster gewesen und hatte ein Faible für Maschinenästhetik. Gleich ihre ersten drei gemeinsamen Wettbewerbsbeiträge gewannen erste Preise, darunter auch die schrä­-ge Idee, im Stadtzentrum vom Liverpool eine Saturn-Rakete aufzustellen. Archigram-Mitbegründer Peter Cook lud die beiden daraufhin ein, ihre Projekte in seiner Art-Net-Galerie in Covent Garden zu präsentieren (1977/78). Auch später, in der legendären, von Archigram gestalteten DAM-Ausstellung „Vision der Moderne“ (1986) war wieder eine Ecke für die Kollegen reserviert.
Da arbeitete David Nixon bereits in den USA und akquirierte für Future Systems umfangrei­che Forschungsbudgets, u.a. für ein 150-geschossiges, modulares Hochhaus mit bepflanzten Etagen und Platz für bis zu 10.000 Menschen („Coexistence“, 1984), das auf den im DAM ausgestellten Collagen probeweise in New York platziert ist, sowie für Entwürfe von Raumstatio­-nen für die NASA. Viele der Wohnzellen und -kapseln von Future Systems sind von der Weltraumtechnologie inspiriert. Zusammen mit dem kon­struktiven Detailreichtum der Pläne war das lange Zeit das Markenzeichen des Büros.
Nach dem Challenger-Unglück 1986 brachen die NASA-Fördermittel weg, und als Amanda Levete 1989 Kaplickýs neue Büro- und auch Lebenspartnerin wurde, konzentrierte sich das Paar auf konkretere Projekte. Das auf Stelzen stehende Ei-förmige Bürogebäude für die Londoner Innenstadt („Green Building“) ist im DAM zu sehen, ebenso der biomorphe Entwurf für die französische Nationalbibliothek in Paris, der in der letzten Wettbewerbsrunde gegen Dominique Perraults Arbeit unterlag.
Die Ausstellung möchte die Bedeutung der Architekturdarstellung als Ideenträger visionärer Gedanken zeigen. Daher geht sie weder auf die bekannten realisierten Bauten von Future Systems wie das Lord’s Media Centre in London (1999) oder das Kaufhaus Selfridges in Birmingham (Bauwelt 46.2003) näher ein, noch auf
die Kontroversen um den Sieger­entwurf für die Tschechische Nationalbibliothek in Prag (Bauwelt 12.2007). Stattdessen setzt sie auf die suggestive Wirkung der Grafiken. Die Schau kann auch mit der ungebrochenen Aktualität von Jan Kaplickýs Ideen punkten. Der Bau üppig bepflanzter Hochhäuser wird längst weltweit diskutiert. Und der während der Hungersnot in Äthio­pien entstandene Entwurf für ein schirmförmiges Schutzzelt („Shelter“, 1985), das als Feld-Klinik, Nahrungsmittelverteilstation oder Notunterkunft für fast 200 Menschen dienen kann, ist nicht nur architektonisch ein Hingucker. Er ist angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingsströ­-me auch konstruktiv einen erneuten Blick wert.

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