Was kommt nach der autogerechten Stadt?
Große Straßen von heute, große Straßen für morgen
Text: Strothmann, Hannah, Berlin
Was kommt nach der autogerechten Stadt?
Große Straßen von heute, große Straßen für morgen
Text: Strothmann, Hannah, Berlin
Das Berliner Experiment einer teilweise autofreien Innenstadt war nur von kurzer Dauer. Letztes Jahr öffnete der neugewählte Senat die Friedrichstraße wieder vollständig für den Autoverkehr, getreu seiner rückwärtsgewandten Verkehrspolitik. Im Gegensatz dazu zeigt nun die Freiluftausstellung „immer modern! 200 Jahre Berlin und seine Straßen“ in unmittelbarer Nachbarschaft mögliche Wege aus der gegenwärtigen Planungsmisere. Angesichts der Klimakrise, der notwendigen Mobilitätswende und der akuten Wohnungsnot besteht großer Handlungsbedarf, der, so eine These der Schau, auf der Straße gelöst werden könnte. Hier geht es jedoch nicht um Revolution, sondern um die Umgestaltung des Stadtraums Straße, der schon immer eine Symbiose aus selbstorganisierter Öffentlichkeit und machtvoller Repräsentationsgeste des Staates war. Auch planerisch handelt es sich hier um ein besonderes Verhältnis: Seit Jahrhunderten ist die Straßenraumgestaltung eine interdisziplinäre Aufgabe, an der Architekturschaffende, Ingenieurinnen, Landschafts- und Verkehrsplanende ober- und unterirdisch mitwirken. Ein passendes Thema also für den Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg, der mit dieser Ausstellung und einer zweibändigen Publikation sein 200-jähriges Bestehen feiert. Auf dem Mittelstreifen der Allee Unter den Linden können Interessierte bis Ende November die Geschichte von Berlins Straßen erkunden und anschließend in die Zukunft blicken.
Harald Bodenschatz und Christina Gräwe kuratierten den historischen Teil der Schau „Große Straßen von heute“. Bodenschatz, zugleich Ideengeber der Ausstellung, sieht den Rückblick nicht als Selbstzweck, sondern als Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Verschiedene Historiker wählten Fotos und Pläne für acht bedeutende Straßen und ihre spezifische Geschichte aus, die nun auf großformatigen Displayelementen präsentiert werden. Den Auftakt bildet, passend zum Standort, die Prachtstraße Unter den Linden, vor allem geprägt durch Schinkels Einfluss. Hobrecht, der Berlins Straßenbild wie kaum ein anderer formte, und dessen Plan ist die Swinemünder Straße gewidmet. Weitere ausgewählte Straßenräume repräsentieren die verschiedenen Entwicklungsphasen Berlins. So erfährt man, dass der Kurfürstendamm bis in die 1880er-Jahre ein Reitweg war, der zur Erschließung einer neuen Villenkolonie im Grunewald ausgebaut wurde. Ebenso spannend ist die Erkenntnis, dass der Grundstein für die autogerechte Stadt bereits in der Weimarer Republik gelegt wurde. Auch die NS-Zeit und die Stadtplanung in Ost-Berlin werden thematisiert. Diese vielfältigen Analysen zeigen, dass die Stadt stets aus Großprojekten mit unterschiedlichsten Visionen bestand: Wahnwitzige Planungsideen und immense Investitionen formten das heutige Berlin. Vieles ist aus heutiger Sicht problematisch, doch etwas mehr visionärer Mut könnte der Gegenwart guttun.
Um von der historischen Analyse zum zweiten Teil der Schau über Zukunftsvisionen zu gelangen, muss man eine vielbefahrene Straße und damit die „autogerechte“ Gegenwart überqueren. Kurator Ulrich Brinkmann fokussiert in „Große Straßen für morgen“ auf zehn alltäglich erscheinende Straßenräume, für die arrivierte Büros auf Einladung und honorarfrei Zukunftsvisionen entwarfen. Diese basieren auf umfangreichem Planmaterial, das auch unterirdische Infrastrukturen dokumentiert. Denn gefragt waren machbare Entwürfe, keine Utopien mit modernistischem Gestus. So reorganisieren Graft Architekten die Mollstraße und schlagen einen Regenwasserretentionskanal vor, dessen „urbane Attraktivität“ ein kitschiges Rendering mit Ruderbooten versinnbildlichen soll. Interessanter ist ihr Ansatz, die angrenzenden Plattenbauten mit Holzmodulen aufzulockern und zu verdichten, zu begrünen und im Erdgeschoss für Einzelhandel zu öffnen. Grün wird es auch am Ostbahnhof: Für die Holzmarktstraße entwarf das Team um Langhof einen neuen Stadtpark mit verkleinerter Straße und Wohntürmen anstelle der breiten Straßenschneise. Ganz anders der Vorschlag von Heike Hanada und Jan Kleihues für die Lindenstraße: Hier soll eine begrünte Kolonnade den fragmentierten, für Autos verkleinerten Straßenraum kohärent erfahrbar machen, identitätsstiftend wirken und neue Räume für nachbarschaftliches Miteinander schaffen. Die verschiedenen Entwürfe greifen dabei im Wesentlichen auf ähnliche, bereits bekannte Strategien zurück: Reduzierung von Straßenspuren, Verbreiterung von Gehwegen, Begrünung, Schwammstadtprinzip und Nachverdichtung. „Visionäre Machbarkeit“ könnte das Leitmotiv heißen. Einige dürften hier das revolutionäre Element der Straße vermissen, während andere sich von diesen Ideen nach wie vor provoziert fühlen.
Dass eine derartige Umgestaltung der Stadt realistisch ist, zeigen Beispiele aus Kopenhagen, Rotterdam, San Francisco – und auch Kassel: Berlin, daran musst du dich doch messen lassen können! Es bleibt zu hoffen, dass dieser Debattenbeitrag in Zukunft konkrete bauliche Veränderungen anregen wird. Das ist keine radikale Forderung, sondern eine Notwendigkeit, die neben planerischen Visionen vor allem politischen Willen erfordert.
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