Bauwelt

Wider die (menschliche) Natur

In „American Prospects“ (1978–1986) hält der Fotograf Joel Sternfeld die schleichende Apokalypse fest

Text: Schraml, Christina, Wien

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Georgia, 1983, „Domestic Workers waiting for the bus“: Mithilfe des Titels erschließt sich der Subtext der Arbeit.Pigment Print, 107 x 133 cm
Foto: Albertina Wien – Schenkung Joel Sternfeld © Joel Sternfeld

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Georgia, 1983, „Domestic Workers waiting for the bus“: Mithilfe des Titels erschließt sich der Subtext der Arbeit.Pigment Print, 107 x 133 cm

Foto: Albertina Wien – Schenkung Joel Sternfeld © Joel Sternfeld


Wider die (menschliche) Natur

In „American Prospects“ (1978–1986) hält der Fotograf Joel Sternfeld die schleichende Apokalypse fest

Text: Schraml, Christina, Wien

Gesäumt von den Villen der Reichen schlängelt sich eine Zufahrtsstraße den sanften Hügel hinauf. Drei afroamerikanische Haushälterinnen warten auf den Bus. Die Natur um sie herum ist gezähmt. Getrimmter Rasen, geschnittene Buchsbäume, nach Plan gesetzte Föhren. Jedes Grundstück ist fein säuberlich begrenzt. Ihre Eigentümer sind hinter kolonialen Fassaden nur erahnbar. Wie Großgrundbesitzer herrschen sie über kleine Fleckchen domestizierter Natur, dem Einfamilienhaus-Teppich der Vorstadtidylle unterworfen. Eine Siedlung in Atlanta im Amerika der 1980er Jahre, fotografiert von Joel Sternfeld.
Das Bild vereint das zentrale Thema seiner umfangreichen Serie „American Prospects” (1978–1986). Ein Jahrzehnt fuhr der Fotograf, unterstützt durch zwei Guggenheim-Stipendien, mit einem VW-Bus durch das Land. Ihn interessierte die Verwobenheit von Mensch und Landschaft. Sternfelds Fotos halten die Wechselwirkung von Natur und Kultur fest – sie sind subtile Dokumentation einer kapitalistischen Natur-Ausbeutung.
Sternfeld brach mit der Tradition der Landschaftsfotografie. Die Spuren der Menschen durchziehen die Panoramen. Während Sternfeld zu Beginn der 1970er Jahre für seine frühen Werke eine kompakte Kleinbildkamera nutzte, um als unauffälliger Beobachter den hektischen Alltag der Straßen seiner Heimatstadt New York einzufangen, entschied er sich für „American Prospects“ erstmals für eine schwere Großformatkamera im Format 8x10 Zoll. Seine präzise Komposition, die farbliche Akzentuierung trugen zur Etablierung der Farbfotografie als Kunstform bei. Er gilt damit neben William Eggleston und Stephen Shore als wichtiger Vertreter der sogenannten New Color Photography.
Eine Auswahl der „American Prospects”-Arbeiten ist bis April 2024 in der Wiener Albertina zu sehen. Die Schau kam durch eine umfangreiche Schenkung von 349 Arbeiten des mittlerweile 79-jährigen Künstlers zustande.
In der Ausstellung werden Betrachterinnen zu Zeugen zufälliger Begegnungen: Zersiedelte Vorstädte, ein Haufen Baumscheite vor einem saftigen Wald, kolossale Gletscher-Panoramen, gebrochen durch das Werbeschild einer profitbringenden Immobilie, zu Tourismusattraktionen verkommene Nationalparks. In einem Vergnügungspark baden Menschen in einem Schwimmbecken, in dem mit einer Maschine künstliche Wellen erzeugt werden, während über dem dahinterliegenden Meer ein Sturm aufzieht. Die Bilder verhandeln die Ausbeutung der Umwelt, den Versuch, sie dem Kapitalismus zu unterwerfen – und wie wir daran scheitern. Autowracks, zurückgelassen im Wald, von einem Tornado leergefegte Städte, eine stillgelegte Uran-Raffine-rie: Wo vom Mensch nur Artefakte geblieben sind, haben Naturgewalten lange verloren geglaubtes Terrain zurückerobert. Menschen schauen neugierig zu, während gestrandete Pottwale an einer blutgetränkten Küste verenden. Sternfelds Bilder sind verstörend. Sie zeigen die Konsequenz unserer nachlässigen Lebensform – subtil und roh. Eine flüsternde Apokalypse, sanft, aber unaufhaltsam. Die Rücksichtslosigkeit prallt an der Natur ab und fällt auf ihre Verursacher zurück, auf Wesen, die nicht fähig sind, ihre Bedürfnisse mit ihrer konsumgeprägten, technologisierten Gesellschaft in Einklang zu bringen. Zurück bleiben Aliens in selbst geformten Lebensräumen, in denen sie nicht lebensfähig sind. Entfremdet und verloren, wandeln sie durch eine Natur aus zweiter Hand. Eine Frau badet vor Flugzeugträgern in der Sonne. Leere Gesichter in bizarren, technokratischen Landschaften. Die porträtierten Menschen wirken entrückt, sie sind Symbole einer verwahrlosten Gesellschaft mit düsteren Aussichten. Der Mensch verwundet weniger die Natur als sich selbst. Wer wen domestiziert, ist mehr als fraglich.
„American Prospects” ist eine komplexe Analyse des Zeitgeists der USA der 1980er Jahre. Die Serie entstand während der Amtszeit von Ronald Reagan, einer Zeit der massiven Aufrüstung, des Kalten Krieges und der grenzenlosen neoliberalen Wirtschaftspolitik. Der amerika-nische Traum ist nur für einige wenige Realität. Der gesamte Besitz einer Familie passt auf einem Bild der Serie auf die Ladefläche eines Pick-ups. Heute würde sie darin vor einem Waldbrand fliehen. Sternfelds Bilder sind Zeitdokumente und dabei zeitlos. Die Apokalypse ragt in die Gegenwart. Sie ist – 50 Jahre später – unübersehbar geworden.

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