Bauwelt

Für einen postkolonialen Blick auf die Ukraine

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Text: Meuser, Philipp, Berlin

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    Inszenierung für die internationale Presse: Auf einer Freifläche in Mariupol haben die russischen Besatzer Anfang August erbeutete Panzer und zivile Fahrzeuge gesammelt. Ein Lieferwagen trägt noch die Aufschrift „Kinder“. Die Kulisse ist nicht weniger zynisch. Neben Ruinen sollen eilig errichtete Wohnbauten eine neue Normalität suggieren.
    Foto: picture alliance/AP

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    Inszenierung für die internationale Presse: Auf einer Freifläche in Mariupol haben die russischen Besatzer Anfang August erbeutete Panzer und zivile Fahrzeuge gesammelt. Ein Lieferwagen trägt noch die Aufschrift „Kinder“. Die Kulisse ist nicht weniger zynisch. Neben Ruinen sollen eilig errichtete Wohnbauten eine neue Normalität suggieren.

    Foto: picture alliance/AP

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    Karte der Ukraine in ihren Grenzen von 1991.
    Grafik: Katrin Soschinski

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    Karte der Ukraine in ihren Grenzen von 1991.

    Grafik: Katrin Soschinski

Für einen postkolonialen Blick auf die Ukraine

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?

Text: Meuser, Philipp, Berlin

Seit 2014 führte Russland in der Ukraine einen hybriden Krieg. Acht Jahre später gab der russische Präsident Wladimir Putin seiner Armee den Befehl zum flächendeckenden Überfall auf das Nachbarland. Das war am 24. Februar 2022. Aus einer „militärischen Spezialoperation“ ist inzwischen eine Teilmobilisierung mit 300.000 Reservisten erwachsen. Von einem Krieg ist seitens Russland immer noch nicht die Rede; die Beschreibung des brutalen Vorgehens als Krieg steht trotz Zehntausenden an Toten unter Strafe. Haben wir in Europa wirklich gedacht, dass sich die zunehmende Radikalisierung der russischen Politik bändigen ließe?
Im Jahr 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz zu „Dekommunisierung“, was in der internationalen Architekturszene zu einer Debatte über den Wert des sowjetischen Bauerbes führte. Russland revanchierte sich mit dem Narrativ einer „Entnazifizierung“ der Ukraine – für Putin und sein System sogar Grund für einen Krieg in Europa, dessen Folgen selbst im subsaharischen Afrika zu Hunger und Tod führen. Aus einem Schlagabtausch mit Worten ist inzwischen ein tödlicher Kampf geworden.
Wer sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mit dem postsowjetischen Erbe im Planen und Bauen auseinandersetzte, konnte dies erfolgreich mit ausschließlichem Fokus auf Russland machen. Eine Kenntnis der Besonderheiten et­-wa des Baltikums, des Kaukasus, Zentralasiens oder der Ukraine galt für die akademische Arbeit nicht als Voraussetzung. 20 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR feierte sich der Verband der sowjetischen Architekten das letzte Mal im Rahmen einer Konferenz im Architekturzentrum Wien – verschleiert als 19. Wiener Architekturkongress, aber initiiert von russischen Architekten. Die begleitende Ausstellung Sowjetmoderne – dieser Begriff wurde damals von dem Architekten Felix Novikov (1927–2022) eingeführt und verlieh der Epoche zwischen Stalin und Glasnost einen griffigen Namen – vermied einen allzu großen Fokus auf Russland. Auch wenn die Schau bewusst nur die nicht-russischen Teilrepubliken und deren Diversität betrachtete, war es offensichtlich noch zu früh für eine kritische Debatte über den Umgang mit dem Erbe einer von Moskau dominierten Baukultur. Im Blickpunkt stand die Identifizierung von denkmalwürdigen Bauten und deren ästhetischer Beitrag zur sowjetmodernen Stilfindung (Bauwelt 4.2013).
Dabei erforschten westliche Universitäten längst die Folgen des Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Baugeschichtsschreibung zur sowjetischen Epoche folgte aber noch ganz der russischen Geschichtsbeugung, die Sow­jetunion habe den Teilrepubliken die Hoheit über die Architektur überlassen. Auch wenn etwa in Taschkent, Tiblissi oder Kyjiw lokale Architekten am Werk waren, ihre Entwürfe für bedeutende Bauten mussten immer mit den Parteikadern vor Ort und deren Führungsoffizieren in Moskau abgestimmt werden – wenn es auch oft vorauseilenden Gehorsam oder Selbstzensur gab. Der uk­rainische Stadtforscher Oleksandr Anisimov bemerkte kürzlich: „Mein Eindruck ist, dass die postkolonialen Diskussionen, die in den Neunzigerjahren begonnen haben, lange Zeit nicht in gleicher Weise auch in Bezug auf Russland geführt wurden. Wer aber über die Ukraine als ei­-ne Art Satellit Russlands spricht, akzeptiert Putins Narrativ und erkennt die von ihm behauptete Nichtexistenz der Ukraine an.“ Die Debatte über die Zukunft der Ukraine auf deren Eman­zipation von Russland zu konzentrieren, mag in der gegenwärtigen Kriegssituation ein verständ­-licher Weg sein. Im globalen Kontext betrachtet, steckt in Putins Versuch der territorialen Aneignung aber noch eine weitere Dimension. Die russische Annexionspolitik zwischen Transnistrien im Westen und Südossetien im Osten sowie deren passive Zustimmung in der Bevölkerung zwischen Kaliningrad und Wladiwostok zeigt, dass sich Russland auch im 21. Jahrhundert noch nicht von seinem imperialistischen Denken verabschiedet hat. Dass die Souveränität der Ukraine, Molda­­wiens und Georgiens infrage gestellt wird, ist der qualvolle Beweis.
Diese Ausgabe der Bauwelt führt von Kyjiw undseinen Vororten Irpin und Borodjanka über das nordostukrainische Charkiw und die südliche Stahlstadt Mariupol ins subtropische Odesa. Die Orte verbindet das Schicksal, Frontstädte gewesen oder noch immer zu sein. Während im Norden die Folgen der russischen Raketen- und Artillerieangriffe Ingenieure vor bislang unbekannteBauaufgaben stellen, ist Charkiw noch immer stündlichen Luftalarmen und einem zunehmenden Verlust an denkmalwürdiger Bausubstanz ausgesetzt. Jenseits der Frontlinie – im russisch besetzten Mariupol – versucht die geflohene Stadtverwaltung im Exil in Saporischschja, einen Alltag beizubehalten und über den Wiederaufbau der größtenteils zerstörten Stadt nachzudenken. In der Hafenstadt Odesa, Nadelöhr für die Getreideexporte und nach wie vor Ziel russischer Raketen, bereiten Architekten und Baufirmen bereits neue Bauprojekte vor. Gerade hier bedarf es aber eines neuen Verständnisses von Wohnraumproduktion. Der soziale Wohnungsbau, seit einer Generation in der Ukraine nicht mehr existent, kann nicht nur an der Schwarzmeerküste zu einer Diversifizierung des Immobilienmarkts beitragen. Welche Akzente eine neue Wohnungsbaupolitik in der Ukraine und die derzeit sieben Millionen Binnenflüchtlinge setzen können, beschreiben zwei abschließenden Beiträge dieses Hefts.

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