Bauwelt

Konstruktiver Ungehorsam

Eine Tagung der TU Braunschweig nahm Auswege aus der ökologischen Krise des Bauwesens ins Visier – nachhaltige Lösungen, auch jenseits der DIN

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Konstruktiver Ungehorsam

Eine Tagung der TU Braunschweig nahm Auswege aus der ökologischen Krise des Bauwesens ins Visier – nachhaltige Lösungen, auch jenseits der DIN

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Die Normen, die Normen! Und das vermaledeite Optimum, auf das Planende ihre Entwürfe trimmen müssen, damit selbst eine Extremsituation souverän gemeistert werden kann, die statistisch so unwahrscheinlich ist, dass sie vermutlich nie eintritt während der Nutzungszeit eines Gebäudes. Wie viel sinnvoller wäre es stattdessen doch, einfache, umwelt- und nutzerinnenfreundliche, reparaturfähige – sprich: wirklich nachhaltige Lösungen zu entwickeln und realisieren zu können!
Anfang September hallten diese Stoßseufzer durchs Alvar-Aalto-Kulturhaus in Wolfsburg, als dort die Tagung „Nachkriegsmoderne sanieren“ stattfand (Bauwelt 21.2022), zwei Wochen später waren sie im Rangfoyer des Braunschweiger Staatstheaters zu vernehmen, als Grundbass der Tagung „Konstruktiver Ungehorsam“. Die Teilnehmenden in Wolfsburg: überwiegend Denkmalpflegerinnen, Stadtplaner, Architektinnen und Ingenieure der Altersklasse Ü50. Die Teilnehmenden hier: Lehrende, Forschende, Studierende sowie Ingenieure und Architektinnen der Generation U40, von ein paar Ausnahmen abgesehen. Die im Verlauf beider Tagungen beschworene „Bauwende“ müsste sich doch irgendwie anstoßen lassen, wenn die Unzufriedenheit mit der Situation und mehr noch mit der Richtung, in die sich die Umstände zu entwickeln scheint, hin zu immer mehr Anlagentechnik, digitaler Steuerung und notwendigen Updates in immer kürzeren Abständen, sparten- und generationsübergreifend so offenkundig ist – und mit solcher Dringlichkeit vorgetragen wird.
Als schon älterer Zuhörer war ich jedenfalls beeindruckt, mit welchem Elan und mit welch spürbarem Interesse an der Sache gerade die Jüngeren ihre Arbeit zu verfolgen scheinen. Über die Projekte von Albor Arquitectos aus Havanna könnte ein Missgünstiger ja noch sagen, na gut, die haben halt nix da in Kuba, müssen sie halt Architettura povera machen. Doch wenn die junge Architektin Delphine Schmid aus Graubünden die hingebungsvolle Arbeit ihres Vereins „Kalkwerk“ zur Produktion eines lokal verfügbaren Baustoffs schildert, das Leipziger Büro Meier Unger seine Experimente zum Kalkboden vorstellt oder Ruth Morrow von der Newcastle University ihre Forschungen zu Baustoffen vorstellt, die aus der Produktivität von Bakterien zu gewinnen sind, wird auch einem solchen Zuhörer klar, dass auch wir Europäer anders bauen könnten: Unter dem Pflaster der Strand.
Was die von Helga Blocksdorf, Matthias von Ballestrem und Katharina Benjamin vorbereitete Veranstaltung darüber hinaus so gewinnbringend machte, war die Breite der Perspektive. Von „globalen“ Recherchen – sei es zu energetischen Konzepten, wie sie Angèle Tersluisen und David Bewersdorff vom Darmstädter Büro ee concept vorstellten, sei es zu Mischkonstruktionen in der vernakulären Architektur, die Yasmin Vobis von der Harvard University in ihrem „Atlas of Heterogeneous Constructions“ gesammelt hat, sei es zum Brandverhalten biogener Baustoffe wie Schilfrohr, das Anne Beim von der Königlichen Akademie Dänemarks untersucht hat – über gebaute Beispiele (allen voran das Bürogebäude HORTUS, „House of Research, Technology, Utopia, Sustainability“, mit seinen Holz-Lehm-Decken, das Nico Ros vom Basler Büro ZPF Ingenieure vorstellte) bis hin zu experimentellen Detaillösungen wurde ein großer Bogen geschlagen, der ein künftiges, nachhaltigeres Bauen greifbar werden ließ.
Das Tolle dabei: Dem in den zwei Tagen Gezeigten fehlte jeder Anhauch von „Öko-Architektur“, alles ungelenk Hutzelige, Bastelige, DIY-Verliebte, auf das noch vor dreißig Jahren Planende in diesem Sektor so oft zurückgriffen, um ihr Desinteresse an Fragen der Raumgestaltung zu kaschieren. Nein, nein, die nachhaltige Architektur kann nicht nur mit Blick auf Materialien und „konstruktiven Ungehorsam“ faszinieren, sie vermag längst auch ästhetisch zu überzeugen: Cool shit, könnte man abkürzen – aber das wäre auf dieser Tagung eine viel zu prätentiöse Formulierung gewesen.

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